Nur mit dem Wissen wie viele Freunde eine Person durchschnittlich hat, konnten Wissenschaftler:innen des Complexity Science Hub (CSH Vienna) die Gruppengrößen von Menschen in einem Computerspiel vorhersagen. Dazu modellierten sie die Bildung sozialer Gruppen nach einem Beispiel aus der Physik, nämlich der Selbstorganisation von Teilchen mit Spin.
Soziologen befassen sich seit langem damit, wie sich soziale Gruppen bilden und welche Mechanismen dahinterstecken. Das Bedürfnis, Stress zu vermeiden, sowie die Homophilie - die menschliche Tendenz, sich anderen mit ähnlichen Merkmalen, Eigenschaften oder Meinungen anzuschließen - sind in vielen verschiedenen Kontexten beobachtet worden.
„Obwohl zahlreiche Modelle erforscht wurden, ist nur wenig darüber bekannt, wie sich Homophilie und Stressvermeidung auf die Bildung menschlicher Gruppen auswirken, insbesondere auf deren Größenverteilung - ob es zum Beispiel viele kleine oder wenige große Gruppen gibt", erklärt Jan Korbel vom CSH. Durch die Anwendung zweier Gebiete aus der Physik - die Selbstorganisation von Teilchen und Spin-Gläser – gewinnen die Forschenden nun neue Einblicke in die Bildung sozialer Gruppen.
KOGNITIVE HERAUSFORDERUNGEN VON MENSCHEN IN GRUPPEN
Ein charakteristisches Merkmal von Menschen ist, dass er sich (häufig zu bestimmten Zwecken) in Gruppen organisiert. "Doch dies erfordert Koordination, was wiederum mit großem Aufwand verbunden ist", sagt Stefan Thurner vom CSH. "Wenn Gruppen größer werden und es zu internen Konflikten kommt, kann diese Koordination schnell die kognitiven Grenzen des Menschen erreichen und überschreiten.
Es muss also spezifische Mechanismen geben, die es dem Menschen ermöglichen, sich effizient in Gruppen zu organisieren. Und diese sollten mit einigen sehr allgemeinen menschlichen Verhaltensmerkmalen erklärbar sein, wie zum Beispiel die Homophilie und die Tendenz, Stress in Gruppen zu vermeiden", so Thurner weiter.
MENSCHEN VERHALTEN SICH WIE TEILCHEN MIT SPIN
Soziale Gruppen entstehen in der Regel, wenn Menschen mit ähnlichen Ansichten in Kontakt treten. "In früheren Studien haben wir die Selbstorganisation von Nanopartikeln in kleinen thermodynamischen Systemen untersucht, wo sie spontan und ohne äußere Eingriffe Strukturen höherer Ordnung bilden. Dann wurde uns bewusst: Das ist dem Verhalten von Menschen in gewisser Weise sehr ähnlich", erinnert sich Korbel.
Menschen interagieren miteinander und bilden Gruppen - wie Teilchen, die Kolloide oder Polymere formen. Davon motiviert, entwickelte die Forschungsgruppe ein einfaches Modell für homophile Menschen, das auf den Mechanismen der Selbstorganisation von Teilchen mit Spin basiert.
KLEINE INFORMATION, GROßES ERGEBNIS
Dieses Modell war in der Lage, die Verteilung der Gruppengröße im Multiplayer-Online-Spiel Pardus vorherzusagen. "Normalerweise müsste man die Struktur des Netzwerks kennen und wissen, wie es aufgebaut ist", erklärt Korbel die Ergebnisse, "hier müssen wir nur wissen, wie viele Freunde ein Spieler im Durchschnitt hat". Mit dieser relativ kleinen Information konnten die Forschenden vorhersagen, wie viele Gruppen einer bestimmten Größe auftreten werden.
SCHLÜSSELGRÖßEN IN SOZIALEN SYSTEMEN
"Menschen sind natürlich komplizierter als Teilchen, aber bestimmte Arten von Wechselwirkungen zwischen ihnen weisen Ähnlichkeiten auf, insbesondere die Anzahl der Möglichkeiten, wie eine bestimmte Personenmenge Gruppen bilden kann. Diese Zahl wird Entropie genannt, und das ist unser Ausgangspunkt für die mathematische Modellierung", sagt Thurner.
Es gab Phasen, in denen Menschen dazu tendierten, große Gruppen zu bilden, und andere, in denen dies nicht geschah, weil die Meinungen zu unterschiedlich waren. "Mitglied einer großen Gruppe zu werden, wäre in dieser Situation ein zu hoher sozialer Stress für sie gewesen", so Korbel. Neben der Entropie ist jener soziale Stress die zweite Schlüsselgröße - vergleichbar mit der Energie in der Physik. Je mehr Gleichgesinnte in einer Gruppe sind, desto geringer ist der soziale Stress für sie.
VON MAGNETEN UND MEINUNGEN
Aus physikalischer Sicht kann man das mit Spins vergleichen: Während in Magneten alle Spins in dieselbe Richtung zeigen, herrscht in „Spin-Gläsern“ (spin-glasses), die Legierungen aus Metallen und Nichtmetallen sind, Unordnung. Aufgrund dieser komplexen Struktur stehen die Spins unter "Stress", da sie sich nach mehreren anderen Spins ausrichten müssen und dies nicht gleichzeitig tun können. "Dies ist vergleichbar mit einer Gruppe von Menschen, in der es verschiedene Meinungen gibt. Sich mit allen zu arrangieren, stellt eine Herausforderung dar und führt mitunter zu Frustration", zieht Korbel die Parallele. "Interessanterweise können sehr unterschiedliche Systeme denselben Ausdruck für Entropie haben. In unserem Fall scheinen soziale Individuen eine ähnliche Entropie zu haben wie strukturbildende Systeme, etwa bestimmte Spingläser", sagt Thurner.
GEMEINSAM STÄRKER SEIN
"Unser neues Modell kann dazu beitragen, soziologische Phänomene in Verbindung mit sozialen Netzwerken und Massenmedien, die zu sozialer Frustration und Polarisierung führen, vorherzusagen", so Korbel abschließend. Es zeigt auch das Potenzial von interdisziplinären Forschungsansätzen, die am Complexity Science Hub besonders gefördert werden. "Die Vision ist es, mehr quantitative und an realen Daten überprüfbare Modelle darüber zu erhalten, wie sich der Homo sapiens in Gruppen organisiert - was wir als Spezies vielleicht am besten können", ergänzt Thurner.
"Menschen sind natürlich komplizierter als Teilchen, aber bestimmte Arten von Wechselwirkungen zwischen ihnen weisen Ähnlichkeiten auf, insbesondere die Anzahl der Möglichkeiten, wie eine bestimmte Personenmenge Gruppen bilden kann. Diese Zahl wird Entropie genannt, und das ist unser Ausgangspunkt für die mathematische Modellierung", sagt Thurner.
Es gab Phasen, in denen Menschen dazu tendierten, große Gruppen zu bilden, und andere, in denen dies nicht geschah, weil die Meinungen zu unterschiedlich waren. "Mitglied einer großen Gruppe zu werden, wäre in dieser Situation ein zu hoher sozialer Stress für sie gewesen", so Korbel. Neben der Entropie ist jener soziale Stress die zweite Schlüsselgröße - vergleichbar mit der Energie in der Physik. Je mehr Gleichgesinnte in einer Gruppe sind, desto geringer ist der soziale Stress für sie.
VON MAGNETEN UND MEINUNGEN
Aus physikalischer Sicht kann man das mit Spins vergleichen: Während in Magneten alle Spins in dieselbe Richtung zeigen, herrscht in „Spin-Gläsern“ (spin-glasses), die Legierungen aus Metallen und Nichtmetallen sind, Unordnung. Aufgrund dieser komplexen Struktur stehen die Spins unter "Stress", da sie sich nach mehreren anderen Spins ausrichten müssen und dies nicht gleichzeitig tun können. "Dies ist vergleichbar mit einer Gruppe von Menschen, in der es verschiedene Meinungen gibt. Sich mit allen zu arrangieren, stellt eine Herausforderung dar und führt mitunter zu Frustration", zieht Korbel die Parallele. "Interessanterweise können sehr unterschiedliche Systeme denselben Ausdruck für Entropie haben. In unserem Fall scheinen soziale Individuen eine ähnliche Entropie zu haben wie strukturbildende Systeme, etwa bestimmte Spingläser", sagt Thurner.
GEMEINSAM STÄRKER SEIN
"Unser neues Modell kann dazu beitragen, soziologische Phänomene in Verbindung mit sozialen Netzwerken und Massenmedien, die zu sozialer Frustration und Polarisierung führen, vorherzusagen", so Korbel abschließend. Es zeigt auch das Potenzial von interdisziplinären Forschungsansätzen, die am Complexity Science Hub besonders gefördert werden. "Die Vision ist es, mehr quantitative und an realen Daten überprüfbare Modelle darüber zu erhalten, wie sich der Homo sapiens in Gruppen organisiert - was wir als Spezies vielleicht am besten können", ergänzt Thurner.
Die Studie "Homophily-based social group formation in a spin-glass self-assembly framework" wird am 30.01.2023 im Fachmagazin Physical Review Letters der American Physical Society veröffentlicht.
Den Preprint finden Sie hier.
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Complexity Science Hub – Kurzprofil
Der Complexity Science Hub (kurz: CSH Vienna) wurde mit dem Ziel gegründet, Big Data zum Nutzen der Gesellschaft einzusetzen. Der CSH Vienna bereitet unter anderem große Datensätze systematisch und strategisch so auf, dass Auswirkungen von Entscheidungen in komplexen Situationen vorab getestet und systematisch bewertet werden können. Damit liefert der Complexity Science Hub die Grundlagen für eine evidenzbasierte Politik. https://www.csh.ac.at