Benötigt eine Region eine bestimmte Anzahl an Wissenschafter:innen, um in einer Disziplin führend zu werden? Ein Team des Complexity Science Hub verfolgte die Spuren von Millionen Forschenden weltweit und fand heraus, dass es keine kritische Masse gibt. Regionen müssen in der Anfangsphase stark sein, um ein Forschungsfeld in Zukunft zu dominieren. Später können sie zwar aufholen, doch das kostet enorm.
Wer ein Restaurant eröffnen will, muss zunächst investieren - in Personal, Einrichtung und Räumlichkeiten -, um später Gewinne zu erzielen. "Politische Entscheidungsträger:innen und Investor:innen einer Region befinden sich in einer ähnlichen Situation. Wenn sie beschließen, in ein neues Forschungsgebiet zu investieren, müssen sie ab einem bestimmten Punkt führend sein, um Profit zu machen", erklärt CSH-Forscher Vito D. P. Servedio.
REICH WIRD REICHER
Dazu brauchen sie finanzielle Mittel und Wissenschafter:innen. "Frühe Investitionen in aufstrebende Forschungsbereiche spielen eine wesentliche Rolle, um später darin führend zu werden", fährt Servedio fort. Sobald Pioniere ein Forschungsfeld oder eine Technologie etablieren, erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass Forschende in dieses neue, stimulierende Umfeld wechseln. Der Entwicklung wissenschaftlicher Stärke einer Region liegt demnach ein "get-rich-richer"-Phänomen zugrunde. Die Mobilität der Forschenden treibt dabei die Entwicklung wissenschaftlicher Disziplinen voran.
Die Frage ist also, wie viele Wissenschaftler:innen muss eine Region einstellen, damit andere Wissenschaftler:innen ihr Umfeld attraktiv finden und sich ihren Einrichtungen anschließen?
KEINE KRITISCHE MASSE
Das Team des CSH fand keine Beweise dafür, dass es eine Mindestanzahl von Forscher:innen gibt, die eingestellt werden müssen. Oder um es technisch zu formulieren: Es existiert keine kritische Masse, damit ein neues Forschungsgebiet erfolgreich begonnen und vorangetrieben werden kann. Das ergab die Analyse von drei wissenschaftlichen Bereichen: Halbleiter, embryonale Stammzellen (ESC) und Internetforschung. “Dieses Ergebnis widerspricht der gängigen Meinung, dass eine Mindestzahl oder kritische Masse an Forschenden nötig ist, um ein Gebiet erfolgreich zu machen. Unsere Studie zeigt, dass dies nicht der Fall ist”, so Stefan Thurner vom CSH.
SEI EIN PIONIER
Tatsächlich scheinen Regionen dann erfolgreich zu sein, wenn es ihnen gelingt, frühzeitig auf einen Zug aufzuspringen und in einem Bereich Pionierarbeit zu leisten. "Wir stellen fest, dass Regionen, die in der Anfangsphase auf eine neue Technologie setzen, in der Regel den entsprechenden Wissenschaftsbereich in der Zukunft dominieren", erklärt Thurner.
CHINA: TEURE AUFHOLJAGD
Gehört eine Region nicht zu den Pionieren, will aber dennoch eine Führungsposition in einem bestimmten Forschungsbereich erreichen, muss sie außerordentliche Anstrengungen unternehmen, um aufzuholen. "Strategische Interventionen müssen über Jahrzehnte hinweg aufrechterhalten werden. Das zeigt beispielsweise die chinesische Halbleiterforschung, wo der Aufholprozess Ende der 1970er Jahre begann und zu einer heute dominierenden Rolle geführt hat", erklärt Servedio.
Ein speziell von den Forschern entwickeltes Modell kann dieses Entwicklungsmuster Chinas erklären (wie China bestimmte Forschungsbereiche nach und nach einnimmt und die Zahl der Wissenschafter:innen, die in diesen Bereichen veröffentlichen, erhöht). "Schließlich hat China einige der am schnellsten wachsenden Institutionen weltweit. Anhand unseres Modells lässt sich deutlich erkennen, dass China zu den USA aufschließt, dabei potenziell enorme Kosten auf sich nimmt, aber auch seine Fähigkeit unter Beweis stellt, sich effektiv in der Spitzenforschung zu engagieren. Auch wenn Pioniere Vorteile haben, ist es nicht unmöglich, dass Nachzügler in einem wissenschaftlichen Bereich aufholen oder sogar die Erstplatzierten übertreffen können", sagt CSH-Forscherin Márcia R. Ferreira.
DREI FORSCHUNGSBEREICHE UND MILLIONEN VON DATEN
Mit Hilfe der Dimensions-Datenbank konnte das CSH-Team die Mobilität von Wissenschafter:innen in drei Bereichen - Halbleiter, embryonale Stammzellen (ESC) und Internetforschung - in verschiedenen Regionen der Welt nachverfolgen. Die Mobilität ergab sich dabei aus den Institutszugehörigkeiten der Forschenden. "Auf diese Weise analysierten wir Daten aus mehreren Jahrzehnten mit Informationen über viele Millionen Publikationen von etwa 20 Millionen Forschenden und mehr als 98.000 Forschungseinrichtungen weltweit", erklärt Servedio.
Im Bereich der Halbleiterforschung analysierten sie zwischen 1941 und 2019 5.062.639 Artikel und 2.011.170 Forschende in 1.633 Regionen weltweit; im Bereich der Stammzellenforschung analysierten sie im gleichen Zeitraum 1.083.100 Artikel und 752.575 Forschende in 1.161 Regionen weltweit; und im Bereich der Internetforschung analysierten sie zwischen 1956 und 2019 246.953 Artikel und 109.098 Forschende in 1.032 Regionen weltweit.
"Unsere Ergebnisse zeigen deutlich, dass Regionen, die in einem bestimmten Bereich führend sein wollen, versuchen müssen, sich frühzeitig zu engagieren. Es ist möglich, den Rückstand aufzuholen, aber das ist mit enormen Kosten verbunden", so Thurner und Servedio. "Natürlich ist unser Modell eine Vereinfachung. Es gibt weitere Faktoren, die zum Erfolg eines Fachgebiets beitragen, die wir hier noch nicht untersuchen konnten und die Gegenstand künftiger Analysen sein werden", so Ferreira.
Tatsächlich scheinen Regionen dann erfolgreich zu sein, wenn es ihnen gelingt, frühzeitig auf einen Zug aufzuspringen und in einem Bereich Pionierarbeit zu leisten. "Wir stellen fest, dass Regionen, die in der Anfangsphase auf eine neue Technologie setzen, in der Regel den entsprechenden Wissenschaftsbereich in der Zukunft dominieren", erklärt Thurner.
CHINA: TEURE AUFHOLJAGD
Gehört eine Region nicht zu den Pionieren, will aber dennoch eine Führungsposition in einem bestimmten Forschungsbereich erreichen, muss sie außerordentliche Anstrengungen unternehmen, um aufzuholen. "Strategische Interventionen müssen über Jahrzehnte hinweg aufrechterhalten werden. Das zeigt beispielsweise die chinesische Halbleiterforschung, wo der Aufholprozess Ende der 1970er Jahre begann und zu einer heute dominierenden Rolle geführt hat", erklärt Servedio.
Ein speziell von den Forschern entwickeltes Modell kann dieses Entwicklungsmuster Chinas erklären (wie China bestimmte Forschungsbereiche nach und nach einnimmt und die Zahl der Wissenschafter:innen, die in diesen Bereichen veröffentlichen, erhöht). "Schließlich hat China einige der am schnellsten wachsenden Institutionen weltweit. Anhand unseres Modells lässt sich deutlich erkennen, dass China zu den USA aufschließt, dabei potenziell enorme Kosten auf sich nimmt, aber auch seine Fähigkeit unter Beweis stellt, sich effektiv in der Spitzenforschung zu engagieren. Auch wenn Pioniere Vorteile haben, ist es nicht unmöglich, dass Nachzügler in einem wissenschaftlichen Bereich aufholen oder sogar die Erstplatzierten übertreffen können", sagt CSH-Forscherin Márcia R. Ferreira.
DREI FORSCHUNGSBEREICHE UND MILLIONEN VON DATEN
Mit Hilfe der Dimensions-Datenbank konnte das CSH-Team die Mobilität von Wissenschafter:innen in drei Bereichen - Halbleiter, embryonale Stammzellen (ESC) und Internetforschung - in verschiedenen Regionen der Welt nachverfolgen. Die Mobilität ergab sich dabei aus den Institutszugehörigkeiten der Forschenden. "Auf diese Weise analysierten wir Daten aus mehreren Jahrzehnten mit Informationen über viele Millionen Publikationen von etwa 20 Millionen Forschenden und mehr als 98.000 Forschungseinrichtungen weltweit", erklärt Servedio.
Im Bereich der Halbleiterforschung analysierten sie zwischen 1941 und 2019 5.062.639 Artikel und 2.011.170 Forschende in 1.633 Regionen weltweit; im Bereich der Stammzellenforschung analysierten sie im gleichen Zeitraum 1.083.100 Artikel und 752.575 Forschende in 1.161 Regionen weltweit; und im Bereich der Internetforschung analysierten sie zwischen 1956 und 2019 246.953 Artikel und 109.098 Forschende in 1.032 Regionen weltweit.
"Unsere Ergebnisse zeigen deutlich, dass Regionen, die in einem bestimmten Bereich führend sein wollen, versuchen müssen, sich frühzeitig zu engagieren. Es ist möglich, den Rückstand aufzuholen, aber das ist mit enormen Kosten verbunden", so Thurner und Servedio. "Natürlich ist unser Modell eine Vereinfachung. Es gibt weitere Faktoren, die zum Erfolg eines Fachgebiets beitragen, die wir hier noch nicht untersuchen konnten und die Gegenstand künftiger Analysen sein werden", so Ferreira.
ZUR STUDIE
Die Studie “Scale-free growth in regional scientific capacity building explains long-term scientific dominance” ist kürzlich in Chaos, Solitons & Fractals erschienen.
Die Studie “Scale-free growth in regional scientific capacity building explains long-term scientific dominance” ist kürzlich in Chaos, Solitons & Fractals erschienen.
ÜBER DEN COMPLEXITY SCIENCE HUB
Der Complexity Science Hub wurde mit dem Ziel gegründet, Big Data zum Nutzen der Gesellschaft einzusetzen. Der CSH Vienna bereitet unter anderem große Datensätze systematisch und strategisch so auf, dass Auswirkungen von Entscheidungen in komplexen Situationen vorab getestet und systematisch bewertet werden können. Damit liefert der Complexity Science Hub die Grundlagen für eine evidenzbasierte Politik.
Der Complexity Science Hub wurde mit dem Ziel gegründet, Big Data zum Nutzen der Gesellschaft einzusetzen. Der CSH Vienna bereitet unter anderem große Datensätze systematisch und strategisch so auf, dass Auswirkungen von Entscheidungen in komplexen Situationen vorab getestet und systematisch bewertet werden können. Damit liefert der Complexity Science Hub die Grundlagen für eine evidenzbasierte Politik.