Wann hat der Fortschritt die Nase vorne, wann das Veralten? Forschende entwickeln ein mathematisches Modell, das Innovation und Obsoleszenz miteinander verbindet. So wollen sie Erkenntnisse von der Wirtschaft über die Biologie bis hin zur Wissenschaft selbst verknüpfen.
In Lewis Carrolls "Alice hinter den Spiegeln" sagt die Rote Königin zu Alice: "Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst". Genauso verhält es sich mit dem Wettlauf zwischen Innovation und Obsoleszenz, dem Veralten von Produkten oder auch Wissen.
Jüngste Hinweise darauf, dass sich der technologische und wissenschaftliche Fortschritt verlangsamen, während die epidemiologischen Risiken in einer globalisierten Welt zunehmen, verdeutlichen wie wichtig es sein wird, die unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu kennen mit der Innovation und Obsoleszenz voranschreiten. Wann überholt Innovation die Obsoleszenz, wann nicht?
Derzeit ist noch relativ wenig über diese Dynamik bekannt, ihre Erforschung erst noch im Entstehen. Erschwerend hinzu kommt, dass sich die Art und Weise, wie Innovation diskutiert wird, in den verschiedenen Disziplinen teilweise stark unterscheidet. Trotz einiger qualitativer Bemühungen, diese Lücken zu schließen, werden gewonnene Erkenntnisse nur selten interdisziplinär ausgetauscht.
In der vom Complexity Science Hub (CSH) geleiteten Studie haben Eddie Lee und seine Kollegen mit einer quantitativen mathematischen Theorie, diese Dynamik nun modelliert, und damit einen wichtigen Schritt getan, um eine Brücke zwischen den Disziplinen zu bauen.
"Man könnte sagen, dass diese Studie eine Art Übersetzungsübung ist", sagt Lee, der Erstautor der in PNAS veröffentlichten Arbeit. "Es gibt eine Fülle von Theorien zu Innovation und Obsoleszenz in verschiedenen Bereichen: von der Innovationstheorie des Ökonomen Joseph Schumpeter bis zu den Konzepten des theoretischen Biologen Stuart Kauffman oder des Wissenschaftsphilosophen Thomas Kuhn. Mit unserer Arbeit versuchen wir, die Türen zum wissenschaftlichen Prozess zu öffnen und Aspekte verschiedener Theorien in einem mathematischen Modell zu verbinden", erklärt Lee, der Postdoc am CSH ist.
DER RAUM DES MÖGLICHEN - UND SEINE GRENZEN
Lee, der mit Geoffrey West und Christopher Kempes vom Santa Fe Institute zusammenarbeitete, versteht Innovation als eine Erweiterung des Raums des Möglichen, während Obsoleszenz diesen Raum verkleinert. Der "Raum des Möglichen" umfasst die Gesamtheit aller bereits realisierten Möglichkeiten innerhalb eines Systems – wie der Wirtschaft, der Biologie oder der Wissenschaft. Akteur:innen in diesen Systemen wären etwa Unternehmen, Spezies und Forschende.
"Innerhalb des Raums des Möglichen könnte man in Bezug auf die Wirtschaft zum Beispiel an verschiedene Herstellungstechnologien denken, die in Unternehmen verfügbar sind. In der Biologie wäre die Gesamtheit aller lebenden Spezies ein gutes Beispiel. Und in der Wissenschaft könnte man an wissenschaftliche Theorien denken, die machbar und empirisch belegt sind", sagt Lee.
Der Raum des Möglichen wächst, wenn Innovationen aus dem "angrenzend Möglichen", Stuart Kauffmans Begriff für die Menge aller Dinge, die einen Schritt vom Möglichen entfernt sind, herangezogen werden. Lee und seine Mitautoren vergleichen dies mit einer "Obsoleszenzfront", also der Menge aller Dinge, die kurz davorstehen, überflüssig und ausrangiert zu werden.
DREI MÖGLICHE SZENARIEN
Ausgehend von diesem Bild des Raums des Möglichen modellierte das Team eine allgemeine Dynamik von Innovation und Obsoleszenz und identifizierte drei mögliche Szenarien. Im ersten Szenario erweitern sich die Möglichkeiten unaufhörlich, wobei die Akteur:innen in der Lage sind, ohne Ende zu wachsen. Das zweite Szenario, die Schumpetersche Dystopie, ist das Gegenteil dieser Welt, in der die Innovation die Veralterung nie überholt. Im dritten Szenario wird das ursprüngliche Schumpetersche Konzept von Schöpfung und Zerstörung verfolgt, in welchem neue Produktionsweisen durch die Eliminierung von alten überleben.
Das Modell wurde mit realen Daten aus einer Vielzahl von Bereichen getestet, von Messungen der Unternehmensproduktivität bis hin zu Covid-19-Mutationen und wissenschaftlichen Zitaten. Auf diese Weise konnten die Forschenden Beispiele aus der Wirtschaft, der Biologie und der Wissenschaft selber zusammenbringen, die bisher isoliert voneinander betrachtet wurden. Sowohl das Modell als auch die Daten beziehen sich auf die durchschnittliche Geschwindigkeit mit der Innovation passiert und nicht auf spezifische Innovationen, was eine Verallgemeinerung ermöglicht.
INNOVATIVE GRENZE
"Wir haben eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen allen Daten aus Wirtschaft, Biologie und Wissenschaft festgestellt", erklärt der CSH-Forscher. Eine wichtige Entdeckung ist, dass alle diese Systeme um eine innovative Grenze herum zu existieren scheinen. "Darüber hinaus weisen Systeme an der Grenze zur Innovationsexplosion dasselbe charakteristische Profil von Akteur:innen auf", fügt Lee hinzu, bei dem wenige Akteur:innen innovativ sind und viele kurz vor der Veralterung stehen. West vergleicht dies mit Systemen, die am "Rande des Chaos" leben, wo eine kleine Veränderung in der Dynamik zu einer großen Veränderung des Systemzustands führen kann.
UNIVERSELLES PHÄNOMEN
Dieser neue Ansatz könnte unser Verständnis der Innovationsdynamik in komplexen Systemen verändern. Durch den Versuch, das Wesen von Innovation und Obsoleszenz als ein universelles Phänomen zu erfassen, bringt die Studie divergierende Standpunkte in einer einheitlichen mathematischen Theorie zusammen. "Unser Rahmen bietet eine Möglichkeit, ein Phänomen, das bisher separat untersucht wurde, mit einer quantitativen Theorie zu vereinen", so die Autoren.
"In Anbetracht der entscheidenden Rolle, die Innovation in ihren vielfältigen Ausprägungen in der Gesellschaft spielt, ist es recht überraschend, dass unsere Arbeit der erste Versuch zu sein scheint, eine Art große, einheitliche mathematische Theorie zu entwickeln, die getestet werden kann, um ihre Dynamik zu verstehen", sagt West. "Sie ist noch sehr grob, kann aber hoffentlich als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer detaillierteren, realistischen Theorie dienen, die Politiker:innen und Fachkräfte unterstützen und informieren kann."
"Wir liefern ein Durchschnittsmodell der kombinierten Dynamik von Innovation und Obsoleszenz", sagt Kempes. "In Zukunft ist es spannend und wichtig, darüber nachzudenken, wie dieses Durchschnittsmodell mit detaillierten Theorien darüber zusammenpasst, wie Innovationen tatsächlich entstehen. Wie werden zum Beispiel aktuelle Produkte oder Technologien kombiniert, um neue Produkte zu entwickeln, wie bei der kürzlich vorgeschlagenen 'Assembly Theory'?"
ÜBER DIE STUDIE
Die Studie “Idea engines: Unifying innovation & obsolescence from markets & genetic evolution to science„ von Eddie Lee, Christopher Kempes, und Geoffrey West ist kürzlich in Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) erschienen.
ÜBER DEN COMPLEXITY SCIENCE HUB
Der Complexity Science Hub (CSH) ist Europas wissenschaftliches Zentrum für die Erforschung komplexer Systeme. Wir übersetzen Daten aus einer Reihe von Disziplinen - Wirtschaft, Medizin, Ökologie, Sozialwissenschaften - in anwendbare Lösungen für eine bessere Welt. Gegründet im Jahr 2015, forschen heute über 70 Wissenschafter:innen am CSH, getragen von der wachsenden Notwendigkeit für ein fundiertes Verständnis der Zusammenhänge, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen - vom Gesundheitswesen bis zu Lieferketten. Mit unseren interdisziplinären Methoden entwickeln wir die Kompetenzen, um Antworten auf heutige und zukünftige Herausforderungen zu finden.
csh.ac.at
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