Statistische Analyse zeigt, dass Interaktion zwischen den Richter:innen eine bedeutende Rolle spielt
Die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs in den USA fallen hinter verschlossenen Türen. Ist es möglich, anhand der Abstimmungsergebnisse einen Blick dahinter zu werfen?
Eddie Lee, Postdoktorand am Complexity Science Hub, und sein Kollege George Cantwell von der Universität Cambridge analysierten mit Methoden aus der statistischen Physik und der Komplexitätsforschung die Abstimmungsergebnisse des Obersten Gerichtshofs der USA von 1946 bis 2021. In der neuen Studie, die in Philosophical Transactions of the Royal Society A veröffentlicht wurde, stellen sie fest, dass die Entscheidungen der Richter:innen maßgeblich durch Interaktionen innerhalb des Gerichts mitbestimmt werden.
INTERAKTION ZWISCHEN RICHTER:INNEN
Der Oberste Gerichtshof ist die höchste richterliche Instanz der USA und besteht aus neun auf Lebenszeit ernannten Richter:innen. Er hat die Aufgabe, die US-Verfassung zu wahren und die richterliche Unabhängigkeit zu gewährleisten. Gegen die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs kann bei keinem anderen Gericht in den USA Berufung eingelegt werden, was die tiefgreifenden Auswirkungen seiner Entscheidungen unterstreicht.
"Viele Ansätze zur Untersuchung des Abstimmungsverhaltens des Obersten Gerichtshofs der USA gehen davon aus, dass die Entscheidungen der Richter:innen bedingt unabhängig sind und auf persönlichen Ansichten basieren, die sich an den Besonderheiten des jeweiligen Falls orientieren. In Wirklichkeit jedoch, interagieren die Richter:innen, und unsere Ergebnisse zeigen, dass diese Interaktionen eine Rolle bei der Entscheidungsfindung spielen", erklärt Lee.
MEHR ALS LIBERAL GEGEN KONSERVATIV
In früheren Studien modellierten Lee und seine Kolleg:innen das Abstimmungsverhalten des Obersten Gerichtshofs ähnlich wie ferromagnetische oder antiferromagnetische Wechselwirkungen bei Magneten, die sich entweder in die gleiche oder in entgegengesetzte Richtung ausrichten. In der neuen Arbeit berücksichtigen die Forschenden nun auch den Kontext des Falles, in dem die Richter:innen ihre Entscheidungen treffen.
"Mit unserer neuen Methode stellen wir ein komplexes Modell vor, das prüft, was in bestehenden Modellen fehlen könnte. Im Gegensatz zu den üblichen Analysen, die sich auf ideologische Neigungen konzentrieren, weist unser Ansatz auf einen entscheidenden Faktor hin: Die Entscheidungen des Gerichts sind das Ergebnis eines komplexen Prozesses von Verhandlungen und Einflussnahme", sagt Lee. Diese Ergebnisse stellen damit die weit verbreitete Fokussierung auf die Kluft zwischen liberal und konservativ in Frage.
VERTRAUEN IN ENTSCHEIDUNGSINSTANZEN?
Diese Untersuchung findet in einer Zeit statt, in der die Öffentlichkeit der Justiz in den USA zunehmend misstraut, insbesondere was ihre Unparteilichkeit und Integrität betrifft.
"Können wir die nächsten Abstimmungen am Obersten Gerichtshof vorhersagen? Definitiv nicht. Aber darum geht es bei diesem Modell auch nicht. Vielmehr soll es die verborgene Dynamik in Entscheidungsgremien wie dem Obersten Gerichtshof beleuchten", betont Lee. Er fügt hinzu: "Wir halten das für wichtig, weil wir als Gesellschaft verstehen müssen, wie Entscheidungen getroffen werden. Wenn wir glauben würden, dass es sich um eine Gruppe von gierigen Menschen handelt, die für persönliche Interessen abstimmen, wäre es ziemlich schwierig, dem System zu vertrauen", sagt Lee.
Indem sie eine klarere Perspektive auf den Entscheidungsprozess des Obersten Gerichtshofs bieten, trägt die Arbeit von Lee und Cantwell zu einem tieferen akademischen Verständnis der internen Dynamik des Obersten Gerichtshofs bei. Die Grundlagenforschung kann so auch helfen, etwaige Vorurteile von Richter:innen genauer zu erfassen, was für Diskussionen über die Rolle des Gerichts in der amerikanischen Demokratie von entscheidender Bedeutung ist.
ÜBER DIE STUDIE
Die Studie "Valence and interactions in judicial voting" von E. D. Lee und G. T. Cantwell wurde in Philosophical Transactions of the Royal Society A veröffentlicht (doi: 10.1098/rsta.2023.0140).
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