Soziale Netzwerke, die Meinungen von Minderheiten schützen, können die Soziodiversität und damit den Fortschritt fördern, so eine aktuelle Studie des Complexity Science Hub (CSH) und der ETH Zürich.
[Wien, 27.05.2024] Soziodiversität – die Vielfalt menschlicher Meinungen, Ideen und Verhaltensweisen – ist eine treibende Kraft für viele, insgesamt sehr positive Entwicklungen. „Wenn unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen, sofern sie keine schlechten Intentionen haben, entstehen neue Ideen, die Innovation fördern und zu wirtschaftlichem Wohlstand beitragen können“, erklärt Dirk Helbing, External Faculty am CSH und Professor an der ETH. Die Soziodiversität zu erhalten oder sogar zu erhöhen, ist daher wichtig. Doch wie kann das gelingen?
In einer Studie, die im Journal of the Royal Society Open Science veröffentlicht wurde, fanden Forschende Hinweise darauf, dass in zentralisierten sozialen Netzwerken, in denen einige wenige zentrale Personen mit vielen anderen verbunden sind, die Soziodiversität geringer ist.
REICH, REICHER, AM REICHSTEN
In der Realität – vor allem online auf Plattformen wie Instagram oder X, wo es möglich ist, mit sehr vielen Menschen befreundet zu sein, und wo einige Berühmtheiten sehr viele Follower haben – seien die allermeisten Netzwerke stark zentralisiert, so die Forschenden. In diesen Netzwerken haben die meisten Menschen nur vergleichsweise wenige Freunde, doch wenige haben extrem viele Freunde.
„Das verstärkt sich auch dadurch, dass Menschen, die bereits viele Follower haben, sichtbarer sind und schneller noch mehr Follower bekommen“, erklärt Andrea Musso vom CSH und der ETH. Dieser sogenannte Matthäus-Effekt – auch „Rich-get-richer“-Effekt genannt – erhöht die Zentralisierung im Netzwerk. Diese Zentralisierung zerstöre die Nischen, welche Minderheitenmeinungen schützen. Folglich reduziere Zentralisierung die Soziodiversität, so das Ergebnis der Studie.
NISCHEN FÜR MINDERHEITENMEINUNGEN
„In zentralisierten Netzwerken werden Minderheitenmeinungen leicht von Mehrheitsmeinungen verdrängt, was dazu führen kann, dass wertvolle Ideen verloren gehen, während der Mainstream die Oberhand gewinnt. Das ist aber oft kein Garant für gute Lösungen“, erklärt Helbing. „Vielmehr sollten soziale Netzwerke sichere Räume bieten, in denen sich neue Ideen entwickeln können, ohne gleich in Konkurrenz mit dem Mainstream treten zu müssen“, so der Wissenschafter.
„Wenn Menschen Teil einer Gruppe sind, die ihre Überzeugungen teilt, können neue Ideen länger überleben“, erklärt Musso. Andernfalls ist es wahrscheinlich, dass sie ihre Meinung an die Mehrheit anpassen. Doch dann hat Innovation keine Chance. Musso ergänzt: „Wichtig ist, dass diese Unterstützung durch die Gruppe vom sozialen Netzwerk einer Person abhängt, und nicht davon, wie weit die Idee insgesamt akzeptiert wird“.
„Netzwerke, welche die Soziodiversität fördern, weisen strukturelle Merkmale auf, die Minderheitsmeinungen schützen“, fasst Helbing zusammen.
ENTFREUNDEN VON VIPs
„Wenn wir also die Soziodiversität fördern wollen, müssten wir soziale Netzwerke dezentralisieren“, so Musso. Nehmen wir zum Beispiel soziale Plattformen wie Meta und X. „Es zeigt sich, dass eine einfache Maßnahme wie das Entfolgen einiger VIPs, also einflussreicher Persönlichkeiten mit vielen Anhänger:innen, die soziale Vielfalt fördern kann“, erklärt Helbing. Im Laufe der Zeit könne dies unter anderem zu einem reicheren Ideenspektrum, mehr Innovation und einer größeren Widerstandsfähigkeit gegenüber gesellschaftlichen Herausforderungen beitragen.
MEINUNGSDYNAMIK IN KÜNSTLICHEN UND REALEN NETZWERKEN
Für ihre Studie haben die Forschenden eine neue Methode entwickelt, um die Fähigkeit eines Netzwerks zur Förderung der Soziodiversität zu verstehen – also wie gut ein Netzwerk darin ist, Raum für Minderheitenmeinungen zu schaffen. Sie validierten die Methode anhand eines einfachen Modells, wie sich Meinungen ändern: Menschen können entweder die Meinung eines Netzwerknachbarn übernehmen (imitieren) oder eine neue Meinung erfinden (innovieren).
Die Studie ergab, dass verschiedene Netzwerke sehr unterschiedliche Niveaus an Soziodiversität aufweisen können, selbst wenn die Imitations- und Innovationsraten gleich sind. „Entscheidend ist, dass unsere neue Methode diese Unterschiede gut vorhersagen kann“, so die Forschenden.
Zunächst testeten sie die Vorhersagekraft der Methode an synthetischen Netzwerken, das heißt an Netzwerken, die durch Modelle erzeugt wurden. „Synthetische Netzwerke haben den Vorteil, dass wir die Parameter beliebig verändern können. Zum Beispiel können wir im Computer das Netzwerk stark zentralisieren, sodass die meisten Elemente mit wenigen zentralen Elementen verbunden sind. Alternativ können wir das Netzwerk dezentralisieren, indem wir seine Elemente zufällig vernetzen“, so Musso. Anschließend evaluierten die Forschenden ihr Modell an über einhundert realen sozialen Netzwerken – zum Beispiel von Meta oder X.
BEDEUTUNGSVOLL IN VIELEN BEREICHEN
„Die Ergebnisse unserer Studie haben wichtige Auswirkungen darauf, wie die Meinungsvielfalt aufrechterhalten oder sogar erhöht werden kann“, erklärt Helbing.
Dabei betonen die Autoren, dass die Meinungsbildung bei Weitem nicht das einzige Beispiel sei, bei dem das Verhalten eines Systems von der Netzwerkstruktur abhängt. Ob und wie sich Krankheiten ausbreiten, ob der Verkehr in einer Stadt effizient fließt, die Katastrophenschutzmaßnahmen wirken oder Kooperation entsteht – das alles sind Beispiele, bei denen das Ergebnis weitgehend durch das Interaktionsnetzwerk bestimmt wird. „Diese Abhängigkeiten sind oft kontraintuitiv“, sagt Helbing. „Das macht die Netzwerktheorie und die Wissenschaft der komplexen dynamischen Systeme zu einem besonders spannenden Forschungsgebiet“.
Service
ÜBER DIE STUDIE
Die Studie "How networks shape diversity for better or worse" von A. Musso und D. Helbing wurde kürzlich im Journal of the Royal Society Open Science veröffentlicht (doi: 10.1098/rsos.230505).
Eine Animation der Studienergebnisse finden Sie hier: https://www.youtube.com/watch?v=sn1x-oLbt10
Eine Animation der Studienergebnisse finden Sie hier: https://www.youtube.com/watch?v=sn1x-oLbt10
ÜBER DEN COMPLEXITY SCIENCE HUB
Der Complexity Science Hub (CSH) ist Europas wissenschaftliches Zentrum zur Erforschung komplexer Systeme. Wir übersetzen Daten aus einer Reihe von Disziplinen – Wirtschaft, Medizin, Ökologie, Sozialwissenschaften – in anwendbare Lösungen für eine bessere Welt. Gegründet im Jahr 2016, forschen heute über 70 Wissenschafter:innen am CSH, getragen von der wachsenden Notwendigkeit für ein fundiertes Verständnis der Zusammenhänge, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen – vom Gesundheitswesen bis zu Lieferketten. Mit unseren interdisziplinären Methoden entwickeln wir die Kompetenzen, um Antworten auf heutige und zukünftige Herausforderungen zu finden.
Mitglieder des CSH sind AIT Austrian Institute of Technology, BOKU University, Central European University (CEU), Medizinische Universität Wien, TU Wien, TU Graz, Universität für Weiterbildung Krems, Vetmeduni Wien, Wirtschaftsuniversität Wien (WU) und Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ).
csh.ac.at
Mitglieder des CSH sind AIT Austrian Institute of Technology, BOKU University, Central European University (CEU), Medizinische Universität Wien, TU Wien, TU Graz, Universität für Weiterbildung Krems, Vetmeduni Wien, Wirtschaftsuniversität Wien (WU) und Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ).
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