Systeme, die auf den ersten Blick ähnlich erscheinen, unterscheiden sich in der Nähe des Kipppunkts stark. Denn ihr Verhalten hängt von mikroskopischen Details ab, so eine aktuelle Studie des Complexity Science Hub – mit möglichen Auswirkungen auf Risikoabschätzungen in Wirtschaft und Gesellschaft.
[Wien, 24.03.2025] Viele Systeme in der Natur – und auch in der Gesellschaft – ändern plötzlich ihre Eigenschaften: Wasser gefriert unter Normaldruck bei einer Temperatur von 0°C, ein Stromnetz kollabiert, wenn ein zentrales Umspannwerk ausfällt, oder eine Gesellschaft spaltet sich nach einem einschneidenden Ereignis in verschiedene Lager. All diese Vorgänge sind Beispiele für sogenannte Phasenübergänge – Kipppunkte, an denen ein System abrupt in einen neuen Zustand übergeht.
„Oft können wir diese Übergänge leicht vorhersagen. Wir wissen, bei welcher Temperatur Wasser gefriert. Aber manchmal ist es extrem schwierig, vorherzusagen, wann und wie diese Veränderungen eintreten“, erklärt CSH-Forscher Jan Korbel, einer der Autoren der Studie, die in Nature Communications veröffentlicht wurde.
VERBORGENE MIKROSKOPISCHE VERÄNDERUNGEN
Eine spezielle Art von Übergängen, die sogenannten gemischtgeordneten Übergänge, wurden bislang noch kaum untersucht und sind besonders schwer vorherzusagen. „Denn bei dieser Art von Übergang wird eine makroskopische Veränderung durch eine Kaskade von mikroskopischen Veränderungen ausgelöst, die nicht leicht zu erkennen sind“, erklärt Stefan Thurner vom CSH. Sobald genügend kleine Veränderungen zusammenkommen, wird das System anfällig für weitere Veränderungen – und ein winziges Ereignis kann plötzlich zu einer großen Veränderung führen.
„Unsere Studie zeigt, dass diese gemischtgeordneten abrupten Übergänge auf langfristigen Kaskaden innerhalb des Interaktionsnetzwerks beruhen“, erklärt Jan Korbel. „Das ist sehr überraschend, denn man kennt diese abrupten Übergänge seit über hundert Jahren, aber ihr Ursprung war bislang unklar. Nun sind wir die Ersten, die zeigen, dass spontane mikroskopische Mechanismen innerhalb des Systems eine Kaskade auslösen, die zu diesen Übergängen führen“, fügt Shlomo Havlin, External Faculty Member am CSH, hinzu. „Und ich denke, dass dieser Mechanismus die meisten, wenn nicht sogar alle abrupten Übergänge in der Natur – und auch im Leben – erklären könnte.“
„Wir konnten zeigen, dass selbst wenn diese Systeme makroskopisch ein ähnliches Verhalten aufweisen, die mikroskopischen Details des Übergangs stark von der genauen Struktur des Systems abhängen“, fügt Thurner hinzu. In der Nähe des Kipppunkts – auch kritischer Punkt genannt – wächst zudem die Zeit, die das System für den Übergang in die neue Phase benötigt, stark an.
Um sich das besser vorstellen zu können: Wenn man ein Gummiband langsam dehnt, passiert zunächst nicht viel. Wenn es dann fast bis zur Reißgrenze gedehnt ist, dauert es mitunter lange, bis es schließlich reißt – und der genaue Moment ist schwer vorherzusagen.
KRIEGE SIND SELTEN WIRKLICH PLÖTZLICH
„Anders als beim Gummiband ist das besondere an gemischtgeordneten Phasenübergängen allerdings, dass selbst wenn ein System den Kipppunkt überschreitet, es oft noch lange dauert, bis der Wechsel zur anderen Phase tatsächlich erfolgt – und es gibt keine verlässlichen Indikatoren, wann genau dies geschieht“, so Korbel.
Um beim Beispiel Wasser zu bleiben: In einem See beeinflussen Wassermoleküle vor allem ihre direkten Nachbarmoleküle, nicht aber Moleküle auf der anderen Seite des Sees. Normalerweise bilden sich bei Kälte so allmählich Eiskristalle. Wäre das Gefrieren des Sees jedoch ein gemischtgeordneter Phasenübergang, bliebe das Wasser über lange Zeit scheinbar unverändert – selbst, wenn die Temperatur unter den Gefrierpunkt fällt. Dann, völlig unerwartet, würde der gesamte See schlagartig in Eis übergehen.
„Ein ähnliches Prinzip zeigt sich in gesellschaftlichen Prozessen. Ein Krieg scheint mitunter plötzlich auszubrechen, doch ihm gehen viele kleine, für sich genommen zunächst unauffällige Entwicklungen voraus – politische Spannungen, wirtschaftliche Krisen oder diplomatische Zwischenfälle. Die zugrundliegenden Netzwerke ändern sich. Lange bleibt das System aber stabil, bis ein scheinbar unbedeutendes Ereignis eine Kettenreaktion auslöst und eine abrupte Veränderung herbeiführt“, so Thurner.
„Die Forschung an gemischtgeordneten Übergängen könnte deshalb dazu beitragen, abrupte Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Natur besser zu verstehen – und vielleicht sogar eine Möglichkeit entwickeln, solche Übergänge vorherzusagen“, erklärt Korbel.
MODELLE EINFACHER SYSTEME
Für ihre Analyse verwendeten die Forschenden Simulationen von Spin-Modellen. In diesen Systemen repräsentieren Spins kleine magnetische Momente, die zwei Zustände annehmen können. „Die Spins interagieren typischerweise mit benachbarten Teilchen und tendieren dazu, sich in eine energetisch günstige Konfiguration anzugleichen“, so Korbel.
In den Simulationen veränderten die Forschenden den Spin einzelner Teilchen. Wenn die Gesamtenergie des Systems danach geringer ist, bleibt dieser neue Zustand mit hoher Wahrscheinlichkeit erhalten, da Systeme nach dem energetisch günstigsten Zustand streben. „Wenn die Energie aber höher war, wäre es theoretisch ungünstig, diesen neuen Zustand beizubehalten“, erklärt Thurner. Doch es gebe Fluktuationen, die es dem System erlauben, auch höhere Energiezustände kurzfristig einzunehmen. Und nahe des Kipppunktes gibt es viele konkurrierende Energieniveaus. Dadurch treten langanhaltende Fluktuationen auf, bevor das System endgültig in eine stabile Phase übergeht.
BISLANG KAUM UNTERSUCHT – GROßES POTENZIAL
Die meisten Arbeiten in der Fachliteratur beschäftigen sich entweder mit Erster-Ordnung-Übergängen, die abrupt verlaufen, aber keine langfristigen mikroskopischen Kaskaden zeigen, oder mit Zweiter-Ordnung-Übergängen, die nicht abrupt sind.
„Am meisten hat mich bei dieser Arbeit überrascht, dass diese Art von Übergängen in der Physik bisher kaum untersucht wurde und daher wenig darüber bekannt ist – und das, obwohl sie in vielen natürlichen Systemen sozioökonomischen Systemen vorkommen und potenziell für zahlreiche Anwendungen sehr wichtig sein könnten“, erklärt Korbel.
In diesem Stadium der Forschung wurden ausschließlich Daten aus Simulationen, sogenannten Monte-Carlo-Simulationen, verwendet. „Die Nutzung realer Daten könnte eine extrem spannende Sache für unsere zukünftige Forschung sein“, sagt Korbel.
Service
ÜBER DIE STUDIE
Die Studie "Microscopic origin of abrupt mixed-order phase transitions" von S. Thurner, J. Korbel und S. Havlin wurde kürzlich in Nature Communications veröffentlicht (doi: 10.1038/s41467-025-57007-1).
ÜBER DEN COMPLEXITY SCIENCE HUB
Der Complexity Science Hub (CSH) ist Europas wissenschaftliches Zentrum zur Erforschung komplexer Systeme. Wir übersetzen Daten aus einer Reihe von Disziplinen – Wirtschaft, Medizin, Ökologie, Sozialwissenschaften – in anwendbare Lösungen für eine bessere Welt. Gegründet im Jahr 2016, forschen heute über 70 Wissenschafter:innen am CSH, getragen von der wachsenden Notwendigkeit für ein fundiertes Verständnis der Zusammenhänge, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen – vom Gesundheitswesen bis zu Lieferketten. Mit unseren interdisziplinären Methoden entwickeln wir die Kompetenzen, um Antworten auf heutige und zukünftige Herausforderungen zu finden.
Mitglieder des CSH sind AIT Austrian Institute of Technology, BOKU University, Central European University (CEU), IT:U Interdisciplinary Transformation University Austria, Medizinische Universität Wien, TU Wien, TU Graz, Universität für Weiterbildung Krems, Vetmeduni Wien, WU (Wirtschaftsuniversität Wien) und Wirtschaftskammer Österreich (WKO).
csh.ac.at
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