Wie der Krieg in der Ukraine und die damit verbundenen Unterbrechungen der Lieferkette zu bis zu 180.000 zusätzlichen Fällen von Typ-2-Diabetes führen könnten.
[Wien, 09.08.2024] Der anhaltende Krieg zwischen Russland und der Ukraine hat zu schwerwiegenden humanitären Krisen geführt, darunter weitreichende Lebensmittelknappheit. Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen waren im Jahr 2023 schätzungsweise 11 Millionen Ukrainer:innen—etwa ein Drittel der Bevölkerung—von Hunger bedroht.
Diese Krise, verschärft durch Störungen in den Lieferketten und extreme Wetterereignisse, könnte die Diabetes-Prävalenz nicht nur in der Ukraine, sondern weltweit erhöhen, argumentieren Peter Klimek und Stefan Thurner vom Complexity Science Hub in einem Kommentar, der in der Fachzeitschrift Science veröffentlicht wurde.
Es ist bekannt, dass Mangelernährung in der Schwangerschaft – vor allem in der frühen Phase – das Risiko des Nachwuchses, Jahrzehnte später an Diabetes zu erkranken, deutlich erhöht. „Bei 187.000 Neugeborenen und einer Diabetesrate von 7,1 % im Jahr 2023 in der Ukraine könnte dies zu 13.000 bis 19.000 zusätzlichen Diabetesfällen führen“, so Klimek und Thurner, die auch an der Medizinischen Universität Wien und am Supply Chain Intelligence Institute Austria tätig sind.
GLOBALE AUSWIRKUNGEN
Weltweit leiden durch den Krieg in der Ukraine und die daraus resultierenden Unterbrechungen in den Lebensmittellieferketten schätzungsweise 23 Millionen Menschen zusätzlich an Hunger. Werden auch wetterbedingte Schocks und andere Störungen in der Lieferkette berücksichtigt, könnten weltweit bis zu 122 Millionen Menschen mehr von Hunger betroffen sein als 2019 – was potenziell bis zu 180.000 zusätzliche Typ-2-Diabetesfälle zur Folge haben könnte.
"Diese Schätzungen sind nicht als quantitative Vorhersagen gedacht, sondern sollen das potenzielle Ausmaß der direkten und indirekten Auswirkungen von Ereignissen wie der russischen Invasion in der Ukraine auf die öffentliche Gesundheit veranschaulichen", so die beiden Forscher.
IN ÖSTERREICH
Dass Mangelernährung während der Schwangerschaft auch in Österreich die Diabetesrate bei den Nachkommen erhöht, zeigten Klimek und Thurner bereits in einer früheren Studie. Analysen der schwersten Hungerperioden 1939 und 1946/1947 ergaben, dass männliche Nachkommen im späteren Leben bis zu 80 % und weibliche Nachkommen bis zu 60 % häufiger an Diabetes erkrankten. Auch für die Folgeerkrankungen von Diabetes konnten sie einen Effekt nachweisen. Das Risiko für Herzversagen, Demenz und chronische Nierenerkrankungen ist doppelt so hoch.
UKRAINE – EIN SCHLÜSSELPRODUZENT
Vor dem Krieg war die Ukraine einer der größten Exporteure landwirtschaftlicher Produkte. „Modellierte Auswirkungen des Verlusts der landwirtschaftlichen Produktion in der Ukraine deuten darauf hin, dass Länder wie Moldawien, Libyen, Libanon oder Tunesien Gefahr laufen, mehr als die Hälfte ihrer Weizenvorräte zu verlieren, mit erheblichen Spillover-Effekten auf Lebensmittelprodukte, die Weizen als Zutat benötigen“, erklären Klimek und Thurner.
WARUM DAS WICHTIG IST
Die beiden Forscher betonen, wie wichtig es ist, diese indirekten Folgen von Konflikten und Unterbrechungen der Lieferketten zu berücksichtigen: „Unsere Schätzungen sollen das Ausmaß der Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit verdeutlichen, damit Gesundheitsbehörden sich dieser neu entstehenden Hochrisikogruppen bewusst sind und möglicherweise die Vorsorgeuntersuchungen und Frühpräventionsmaßnahmen für die kommenden Jahrzehnte anpassen“, so die Forschenden. Es bestehe zudem ein dringender Bedarf die globalen Lebensmittelversorgungsketten zu diversifizieren und Abhängigkeiten zu reduzieren.
HUNGER UND DIABETES
Studien zu historischen Hungersnöten etwa in den Niederlanden, China und Österreich zeigen, dass Mangelernährung während der Schwangerschaft, insbesondere in der frühen Phase, das Risiko des Nachwuchses, Jahrzehnte später an Diabetes zu erkranken, deutlich erhöht. Eine aktuelle Studie zur ukrainischen Hungersnot von 1932-33 bietet noch detailliertere Einblicke: Durch die Analyse monatlicher Geburtskohorten und regionaler Unterschiede in der Schwere der Hungersnot fanden Forschende der Columbia University heraus, dass schwere Mangelernährung während der Frühschwangerschaft das Diabetesrisiko um das 1,5- bis 2-fache erhöhen kann.
Eine mögliche Erklärung ist, dass die fetale Exposition gegenüber Mangelernährung metabolische Veränderungen auslöst, die den Körper auf eine nährstoffarme Umgebung vorbereiten. Wenn diese später nicht mehr vorhanden ist, führt die Fehlanpassung zu einem höheren Diabetesrisiko.
INFORMATIONEN
Der Kommentar "The lasting effects of famine" von P. Klimek und S. Thurner wurde in Science veröffentlicht (doi: 10.1126/science.adr1425).
ÜBER DEN COMPLEXITY SCIENCE HUB
Der Complexity Science Hub (CSH) ist Europas wissenschaftliches Zentrum zur Erforschung komplexer Systeme. Wir übersetzen Daten aus einer Reihe von Disziplinen – Wirtschaft, Medizin, Ökologie, Sozialwissenschaften – in anwendbare Lösungen für eine bessere Welt. Gegründet im Jahr 2016, forschen heute über 70 Wissenschafter:innen am CSH, getragen von der wachsenden Notwendigkeit für ein fundiertes Verständnis der Zusammenhänge, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen – vom Gesundheitswesen bis zu Lieferketten. Mit unseren interdisziplinären Methoden entwickeln wir die Kompetenzen, um Antworten auf heutige und zukünftige Herausforderungen zu finden.
Mitglieder des CSH sind AIT Austrian Institute of Technology, BOKU University, Central European University (CEU), Medizinische Universität Wien, TU Wien, TU Graz, Universität für Weiterbildung Krems, Vetmeduni Wien, Wirtschaftsuniversität Wien (WU) und Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ).
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