Netzwerke bestimmen unsere Welt: von sozialen Medien bis zu globalen Lieferketten, von Finanzsystemen bis zu Stromnetzen. Doch welche Elemente sind so zentral, dass ihr Ausfall weitreichende Folgen hätte? Forschende des Complexity Science Hub (CSH) haben mit der sogenannten „Fitness Centrality“ eine neue Methode entwickelt, um entscheidende Knotenpunkte effizient und präzise zu identifizieren.
[Wien, 29.01.2025] In einer vernetzten Welt, in der selbst kleinste Störungen Kettenreaktionen auslösen können, wird es immer wichtiger, die entscheidenden Elemente eines Netzwerks zu erkennen. Doch wie lässt sich die Bedeutung einzelner Elemente in einem dynamischen Netzwerk bestimmen? Welche Unternehmen sind zentral für die Wirtschaft eines Landes? Welche Straßen sind essenziell, um den Verkehrsfluss am Laufen zu halten? Seit Langem stellt die Beantwortung solcher Fragen Wissenschaftler:innen vor große Herausforderungen.
Ein Team von Forschenden des CSH entwickelte mit der „Fitness Centrality“ nun ein mathematisches Werkzeug, um die wichtigsten Knotenpunkte – also die zentralen Elemente – in einem Netzwerk zu identifizieren. „Was dieses Tool, ein Algorithmus, besonders spannend macht, ist seine universelle Anwendbarkeit“, erklärt Vito D.P. Servedio, Erstautor der Studie, die im Journal of Physics: Complexity veröffentlicht wurde. „Es erweitert Methoden, die bisher auf die Wirtschaftsanalyse beschränkt waren, zu einem universellen Werkzeug, das für alle Arten von Netzwerken funktioniert.“
WEITREICHENDE PRAKTISCHE ANWENDUNGEN
Die neue Methode ist besonders geeignet, Knotenpunkte zu finden, deren Ausfall viele andere Teile des Netzwerks isolieren würde – ähnlich wie der Ausfall eines Servers in einem Kommunikationsnetzwerk, der die Verbindung vieler Nutzer unterbrechen würde, oder der Ausfall einer Pumpe in einem Wasserversorgungsnetz, der die Versorgung ganzer Bezirke lahmlegen könnte. „Das ist eine entscheidende Fähigkeit, sowohl zum Schutz kritischer Infrastrukturen als auch zum Verständnis möglicher Netzwerkausfälle“, sagt Servedio.
Die praktischen Anwendungen dieser Methode sind enorm. Servedio nennt einige Beispiele: In Lieferketten könnte die Fitness Centrality dabei helfen, Unternehmen zu identifizieren, die für das Funktionieren des Netzwerks besonders wichtig sind, wodurch ein besseres Risikomanagement und eine resilientere Planung möglich werden. In ökologischen Netzwerken könnte sie Naturschützer:innen helfen, jene Arten zu bestimmen, die für die Stabilität eines Ökosystems womöglich essentieller sind als andere. Für Cybersicherheitsexpert:innen bietet sie eine neue Möglichkeit, Schwachstellen in Computernetzwerken zu identifizieren, die zusätzlichen Schutz benötigen. In Transportnetzwerken, wie etwa bei Fluglinien oder Straßensystemen, ermöglicht die Identifikation zentraler Knotenpunkte (Flughäfen, Kreuzungen), um schlecht angebundene Regionen besser zu vernetzen und Strategien für Störfälle zu optimieren. Ebenso können in kollaborativen Netzwerken, zum Beispiel innerhalb von Unternehmen, essenzielle Mitarbeitende oder Teams identifiziert werden, um eine funktionierende Kommunikation und fließende Arbeitsabläufe sicherzustellen.
SCHNELLER UND EFFIZIENTER
„Ein großer Vorteil dieser Methode ist ihre rechnerische Effizienz. Anders als bei anderen Ansätzen, die nach jedem Entfernen eines Knotens die Netzwerkgrößen neu berechnen müssen, werden die Fitness-Werte bei diesem Verfahren nur einmal in der Initialisierungsphase berechnet. Das macht die Methode besonders praktisch für die Analyse großer Netzwerke, bei denen alternative Methoden untragbar langsam wären. Sie ist insbesondere dann wertvoll, wenn eine Neuberechnung der Netzwerkgrößen nach dem Entfernen eines Knotens nicht möglich ist, etwa bei Polizeieinsätzen gegen organisierte kriminelle Netzwerke“, sagt Servedio.
In Testfällen übertraf dieser neue Ansatz bestehende Methoden bei der Identifikation kritischer Knotenpunkte, deren Entfernung das Netzwerk am stärksten stören würde, um etwa 15 %.
Was bedeutet das konkret? „Man könnte sagen, dass unsere Methode 15 % mehr ‚Netzsplitter‘ erzeugt“, erklärt Servedio. Er fährt fort: „Es gibt viele Möglichkeiten, ein Netzwerk zu zerstören, je nach Zielsetzung. Wenn man ein Netzwerk in große Gemeinschaften aufteilen will, ist zum Beispiel die Betweenness-Zentralität eine geeignete Methode. Im Gegensatz dazu zerlegt unser Ansatz der Fitness-Zentralität Netzwerke wie eine Käsereibe, indem er sie in kleine Splitter aufteilt – winzige Cluster oder isolierte Knoten ohne Verbindungen. In einem terroristischen Netzwerk beispielsweise könnte die Aufspaltung in große Teile dazu führen, dass man den Überblick über diese Gruppen verliert. Stattdessen wäre es das Ziel, so viele Individuen wie möglich zu isolieren.“
VON DER WIRTSCHAFTSANALYSE ZUR UNIVERSELLEN ANWENDUNG
Wie so oft in der Wissenschaft hat eine Methode, die ursprünglich für ein spezifisches Anwendungsgebiet entwickelt wurde, in anderen Feldern eine neue Bedeutung gefunden. Die Fitness Centrality basiert auf dem Schlüsselkonzept der Economic Fitness Complexity (EFC) – einem Maß, das ursprünglich entwickelt wurde, um die wirtschaftliche Entwicklung von Ländern, Städten und Regionen zu erklären und vorherzusagen.
Der bestehende Algorithmus war jedoch auf bipartite Graphen beschränkt, das heißt auf mathematische Modelle für Beziehungen zwischen Elementen zweier Gruppen. „Dieser Algorithmus wurde selbst bei kleinsten Abweichungen von dieser bipartiten Struktur nicht mehr brauchbar – was problematisch ist, da reale Netzwerke typischerweise nicht nur aus zwei Gruppen bestehen“, erklärt Servedio. „Wir haben eine Methode, die ursprünglich für wirtschaftliche Analysen entwickelt wurde, nun so weiterentwickelt, dass sie für jedes Netzwerk verwendet werden kann“, erklärt er.
Service
ÜBER DIE STUDIE
Die Studie "Fitness centrality: a non-linear centrality measure for complex networks" von V. D.P. Servedio, A. Bellina, E. Calò und G. De Marzo wurde kürzlich in Journal of Physics: Complexity veröffentlicht (doi: 10.1088/2632-072X/ada845).
ÜBER DEN COMPLEXITY SCIENCE HUB
Der Complexity Science Hub (CSH) ist Europas wissenschaftliches Zentrum zur Erforschung komplexer Systeme. Wir übersetzen Daten aus einer Reihe von Disziplinen – Wirtschaft, Medizin, Ökologie, Sozialwissenschaften – in anwendbare Lösungen für eine bessere Welt. Gegründet im Jahr 2016, forschen heute über 70 Wissenschafter:innen am CSH, getragen von der wachsenden Notwendigkeit für ein fundiertes Verständnis der Zusammenhänge, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen – vom Gesundheitswesen bis zu Lieferketten. Mit unseren interdisziplinären Methoden entwickeln wir die Kompetenzen, um Antworten auf heutige und zukünftige Herausforderungen zu finden.
Mitglieder des CSH sind AIT Austrian Institute of Technology, BOKU University, Central European University (CEU), IT:U Interdisciplinary Transformation University Austria, Medizinische Universität Wien, TU Wien, TU Graz, Universität für Weiterbildung Krems, Vetmeduni Wien, WU (Wirtschaftsuniversität Wien) und Wirtschaftskammer Österreich (WKO).
https://csh.ac.at/
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