Ein datengetriebenes Verfahren entwickelt von Forschenden des Complexity Science Hub (CSH) identifiziert bislang übersehene Arten mit Aussterberisiko – und kann Naturschützer:innen helfen, Maßnahmen gezielter zu setzen.
[Wien, 10.07.2025] Denken Sie, dass Sie wissen, welche Arten in einem Ökosystem besonders gefährdet sind? Eine neue Analysemethode, die von Physikern am CSH entwickelt wurde, legt nahe, dass es diesbezüglich noch mehr zu entdecken gibt. In ihrer aktuellen Studie fanden sie beispielsweise heraus, dass Arten wie Eidechsen und Kaninchen in den Zypressenfeuchtgebieten Südfloridas zu den am stärksten gefährdeten Arten ihres Ökosystems gehören, was auf Gefährdungen hinweist, die nicht immer offensichtlich sind.
Die Studie, die in der Fachzeitschrift Chaos, Solitons & Fractals veröffentlicht wurde, stellt ein neues Modell vor, mit dem sich die ökologische Rolle von Arten und ihre Gefährdung in ihrem Ökosystem kartieren und messen lässt. Im Vergleich zu herkömmlichen Modellen schneidet es ähnlich oder sogar besser ab, insbesondere bei der Ermittlung von Arten, die am stärksten vom Aussterben bedroht sind.
„Wir konnten die ökologischen Rollen vollständig anhand von Netzwerkdaten rekonstruieren – also so, dass im Grunde keine biologischen Kenntnisse unsererseits dafür notwendig wären“, erklärt der Erstautor Emanuele Calò. „Das macht die Methode besonders vielversprechend für groß angelegte Bewertungen der biologischen Vielfalt und das Management von Ökosystemen, insbesondere in Regionen, in denen ökologisches Fachwissen oder detaillierte Feldstudien begrenzt sind“, fügt Calò von der IMT School for Advanced Studies Lucca hinzu.
Als Gaststudent am CSH entwickelte Calò die neue Methode zusammen mit dem CSH-Forscher Vito D. P. Servedio und dem CSH-Junior Fellow Giordano De Marzo.
ERGÄNZENDE METHODE FÜR ARTENSCHUTZ
Da Ökosysteme weltweit durch den Klimawandel, den Verlust von Lebensräumen und die Übernutzung immer stärker unter Druck geraten, brauchen Naturschützer:innen dringend bessere Instrumente, um dem Artenschutz Priorität einzuräumen, betonen die Forschenden. „Unser datengestützter Ansatz bietet eine wertvolle, ergänzende und kosteneffiziente Möglichkeit, Erkenntnisse zu gewinnen.“
So könnte die Ermittlung von Schlüsselarten – also solchen, deren Verlust ein vergleichsweise größeres weiteres Aussterben auslösen könnte – es ermöglichen begrenzte Ressourcen und Schutzmaßnahmen dorthin zu lenken, wo sie am meisten bewirken können.
DOPPELTE ROLLE: RÄUBER UND BEUTE
„Mit unserer Methode wollten wir die doppelte Rolle, die jede Art spielt, sowohl als Räuber als auch als Beute, herausarbeiten“, erklärt De Marzo, der auch als Postdoc an der Universität Konstanz forscht. "Die bestehenden Messmethoden neigen dazu, diese Interaktionen auf eine einzige Zahl zu komprimieren, aber Ökosysteme sind viel komplexer als das. Unser Ansatz erfasst beide Richtungen des Nahrungsnetzes und ermöglicht es uns zu verstehen, welche Arten eine Schlüsselrolle spielen und welche am meisten gefährdet sind."
Anhand von realen Daten aus sechs Ökosystemen in den USA, darunter die Zypressensümpfe der Florida Bay und die Coachella-Wüste, vergaben sie für jede Art zwei Werte: die Wichtigkeit (wie viele andere Arten von ihr als Nahrungsquelle abhängen) und die Robustheit (wie wahrscheinlich es ist, dass eine Art überlebt, je nachdem, wie flexibel und erfolgreich sie bei der Nahrungssuche ist).
Anhand von realen Daten aus sechs Ökosystemen in den USA, darunter die Zypressensümpfe der Florida Bay und die Coachella-Wüste, vergaben sie für jede Art zwei Werte: die Wichtigkeit (wie viele andere Arten von ihr als Nahrungsquelle abhängen) und die Robustheit (wie wahrscheinlich es ist, dass eine Art überlebt, je nachdem, wie flexibel und erfolgreich sie bei der Nahrungssuche ist).
PHYTOPLANKTON, EIDECHSEN, KANINCHEN UND ALLIGATOREN
Diese zweidimensionale Kartierung zeigte verborgene Verwundbarkeiten und Schlüsselarten auf: Am Beispiel des Nahrungsnetzes der Zypressensümpfe in der Bucht von Florida wurden zum einen wichtige Arten wie das Phytoplankton identifiziert, die bei ihrer Entfernung oft eine weitreichende Koextinktion auslösen, sowie zum anderen sehr robuste Arten wie Alligatoren, die aufgrund ihrer vielfältigen Ernährung und ihrer geringen Anfälligkeit für Raubtiere in der Regel länger überleben, wenn das gesamte Ökosystem unter Druck gerät.
Darüber hinaus weist die neue Methode auf Arten mit geringer Robustheit hin, wie z. B. Eidechsen und Kaninchen. Auch wenn diese Arten im Nahrungsnetz nur eine untergeordnete Rolle spielen, sind sie dennoch stark vom Aussterben bedroht, was auf versteckte Schwachstellen hinweist, die bei der Naturschutzplanung oft übersehen werden.
Darüber hinaus weist die neue Methode auf Arten mit geringer Robustheit hin, wie z. B. Eidechsen und Kaninchen. Auch wenn diese Arten im Nahrungsnetz nur eine untergeordnete Rolle spielen, sind sie dennoch stark vom Aussterben bedroht, was auf versteckte Schwachstellen hinweist, die bei der Naturschutzplanung oft übersehen werden.
ÖKONOMIE IN DER ÖKOLOGIE?
„Was uns in unserer Forschung besonders auffiel, war, wie Methoden aus der ökonomischen Komplexitätsforschung direkt auf ökologische Systeme angewandt werden können. Wenn man sagt, man nutzt wirtschaftliche Werkzeuge, um Ökologie zu studieren, schauen viele überrascht: Das scheint ja völlig verschieden. Doch genau das macht die Wissenschaft komplexer Systeme so mächtig“, sagt Servedio.
„Die mathematischen Modelle, mit denen wir verstehen, wie Länder sich in globalen Handelsnetzwerken Wettbewerbsvorteile erarbeiten, können zeigen, wie Arten innerhalb von Ökosystemen interagieren und koexistieren“, erklärt der CSH-Forscher. Das verdeutlicht, dass komplexe Systeme oft ähnliche grundlegende Strukturen teilen – egal ob es um Ökonomien oder Ökosysteme geht. Zwar unterscheiden sich die Kontexte – in der Studie sind es Arten statt Industrien, Lebensräume statt Märkte –, doch die Netzwerkdynamiken sind verblüffend vergleichbar.
„Die mathematischen Modelle, mit denen wir verstehen, wie Länder sich in globalen Handelsnetzwerken Wettbewerbsvorteile erarbeiten, können zeigen, wie Arten innerhalb von Ökosystemen interagieren und koexistieren“, erklärt der CSH-Forscher. Das verdeutlicht, dass komplexe Systeme oft ähnliche grundlegende Strukturen teilen – egal ob es um Ökonomien oder Ökosysteme geht. Zwar unterscheiden sich die Kontexte – in der Studie sind es Arten statt Industrien, Lebensräume statt Märkte –, doch die Netzwerkdynamiken sind verblüffend vergleichbar.
„Solche methodischen Übertragungen werden in unserem Forschungsfeld immer wichtiger. Viele unserer wichtigsten Erkenntnisse stammen aus dem Leihen von Werkzeugen scheinbar fremder Disziplinen und dem Entdecken unerwarteter Verbindungen“, schließt Servedio.
Service
ÜBER DIE STUDIE
Die Studie "Species vulnerability and ecosystem fragility: A dual perspective in food webs" von Emanuele Calò, Giordano De Marzo und Vito D. P. Servedio wurde in Chaos, Solitons & Fractals veröffentlicht (doi: 10.1016/j.chaos.2025.116741).
ÜBER DEN COMPLEXITY SCIENCE HUB
Der Complexity Science Hub (CSH) ist Europas wissenschaftliches Zentrum zur Erforschung komplexer Systeme. Wir übersetzen Daten aus einer Reihe von Disziplinen – Wirtschaft, Medizin, Ökologie, Sozialwissenschaften – in anwendbare Lösungen für eine bessere Welt. Gegründet im Jahr 2016, forschen heute über 70 Wissenschafter:innen am CSH, getragen von der wachsenden Notwendigkeit für ein fundiertes Verständnis der Zusammenhänge, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen – vom Gesundheitswesen bis zu Lieferketten. Mit unseren interdisziplinären Methoden entwickeln wir die Kompetenzen, um Antworten auf heutige und zukünftige Herausforderungen zu finden.
Mitglieder des CSH sind AIT Austrian Institute of Technology, BOKU University, Central European University (CEU), IT:U Interdisciplinary Transformation University Austria, Medizinische Universität Wien, TU Wien, TU Graz, Universität für Weiterbildung Krems, Vetmeduni Wien, WU (Wirtschaftsuniversität Wien) und Wirtschaftskammer Österreich (WKO).
csh.ac.at
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