Eine neue Studie des Complexity Science Hub (CSH) zeigt, dass die ökonomische Entwicklung von US-Städten seit 1850 einer überraschend stabilen Gesetzmäßigkeit folgt: Trotz massiver technischer, demografischer und wirtschaftlicher Umbrüche bleibt die „Kohärenz“ der Städte im Durchschnitt stabil. Die „Kohärenz“ ist dabei ein Maß dafür, wie gut ihre wirtschaftlichen Aktivitäten zueinander passen.
Die Studie von Simone Daniotti, Matte Hartog und Frank Neffke, die kürzlich in der Fachzeitschrift PNAS veröffentlicht wurde, basiert auf einem einzigartigen Datensatz von 650 Millionen Daten aus US-Volkszählungen, sechs Millionen Patenten und weiteren historischen Quellen, die fast zwei Jahrhunderte Stadtentwicklung abdecken.
„Wir haben beobachtet, dass sich US-Städte im Laufe der Zeit allmählich, aber sicher weiterentwickeln und diversifizieren – vom Handwerk und der industriellen Fertigung bis hin zu Dienstleistungen und Ingenieurwesen. Dabei bewahren sie allerdings über fast zwei Jahrhunderte hinweg im Durchschnitt ein konstantes Maß an Kohärenz“, erklärt Daniotti, Wissenschafter am CSH und Erstautor der Studie, das Ergebnis.
WAS „KOHÄRENZ“ BEDEUTET
Die Studie beschreibt Kohärenz als „Klebstoff“, der die Wirtschaft einer Stadt zusammenhält. Sie spiegelt wider, wie ähnlich oder verbunden zwei zufällig ausgewählte Arbeitskräfte – oder Unternehmen, oder Patente – sind. In anderen Worten: sie misst den inneren Zusammenhang der Wirtschaft einer Stadt, also wie gut die ökonomischen Aktivitäten einer Stadt zueinander passen.
Hohe Kohärenz bedeutet, dass die Wirtschaft einer Stadt eng verzahnt ist und Branchen – und damit auch Fähigkeiten und Technologien – aufeinander aufbauen (wie Detroit in seiner Blütezeit der Automobilproduktion). Das macht sie effizient und stabil – aber auch verletzlich, wenn genau dieser Bereich in eine Krise gerät.
Niedrige Kohärenz heißt, dass die Stadt sehr verschiedene, wenig verwandte Branchen beheimatet (wie beispielsweise in New York City). Das macht sie flexibler und anpassungsfähiger – aber schwerer instand zu halten, weil Infrastruktur, Fähigkeiten und Institutionen sehr unterschiedlich sein müssen.
Dabei berücksichtigt die Bemessung der Kohärenz laut Daniotti drei Dinge: Erstens die Vielfalt der wirtschaftlichen Aktivitäten (Berufe, Branchen, Technologien); zweitens wie gleichmäßig sich diese Aktivitäten über die Erwerbsbevölkerung verteilen; und drittens die Unterschiede, also wie verschieden diese Aktivitäten voneinander sind.
Eine höhere oder niedrigere Kohärenz bedeutet nicht automatisch, dass eine Stadt floriert – oder nicht, aber sie ist ein wichtiger Rahmen, der den Spielraum und die Flexibilität einer Stadt prägt.
EIN BEISPIEL: DIE US-WESTKÜSTE
„Selbst an der US-Westküste, obwohl sich diese erst später und zunächst isoliert vom übrigen US-amerikanischen System entwickelte, konnten wir eine durchschnittlich konstante Kohärenz beobachten“, so Daniotti.
„1850 entstanden dort mit dem Beginn des Goldrauschs Städte wie Los Angeles und San Francisco“, erklärt Daniotti weiter, der auch an der Universität Utrecht forscht. Die Studie zeigt, dass die Westküste einen raschen und tiefgreifenden Strukturwandel durchlief. „Die Transformation war massiv – schneller und ausgeprägter als an der Ostküste“, sagt er. 1850 wurde weniger als die Hälfte aller exportorientierten Berufe, die im übrigen US existierten, auch an der Westküste ausgeübt – doch innerhalb von nur fünfzig Jahren stieg dieser Anteil auf fast 90 %. „Trotz der raschen Diversifizierung blieb die durchschnittliche Kohärenz der Städte an der Westküste bemerkenswert konstant und auf einem Niveau vergleichbar mit dem der Städte an der Ostküste.“
GRÖßE ZÄHLT: KOHÄRENZ SCHRUMPFT MIT ZUNEHMENDER STADTGRÖßE
Darüber hinaus zeigt die Studie, dass größere Städte durchwegs weniger kohärent sind. Ihre Kohärenz sinkt mit einer stabilen Rate von etwa 4 % bei jeder Verdoppelung der Bevölkerungszahl. Obwohl sich Technologien dramatisch verändert haben – von Eisenbahnen und Telefonie über Massenproduktion und Computer bis hin zu KI – und die US-Bevölkerung von rund 23 Millionen im Jahr 1850 auf 332 Millionen im Jahr 2022 anwuchs und sich stetig nach Westen verlagerte, blieb das Verhältnis von Kohärenz und Stadtgröße gleich.
WARUM TRANSFORMATIONEN BEGRENZT SIND
„Dies deutet darauf hin, dass die Verteilung wirtschaftlicher Aktivitäten in einem urbanen System universellen Gesetzmäßigkeiten folgt, die beschränken, wie viel Vielfalt Städte aufrechterhalten können, ohne ihre Kohärenz zu verlieren“, sagt Frank Neffke, Leiter der Forschungsgruppe Transforming Economies am CSH.
„Die Ergebnisse machen deutlich, dass Städte zwar neue wirtschaftliche Aktivitäten entwickeln und alte aufgeben, dies jedoch auf eine Weise tun, die ihre Kohärenz konstant hält. Das wiederum deutet darauf hin, dass solche Transformationen begrenzt sind. In anderen Worten: Auch wenn Städte neue Tätigkeitsfelder entwickeln und alte ablegen können, muss das Set an Industrien, das sie aufrechterhalten, zu jedem Zeitpunkt kohärent bleiben“, erklärt Neffke weiter. „Selbst Fälle wie Pittsburgh oder Boston, die längere Phasen des Niedergangs durchliefen und erst wieder aufstiegen, nachdem sie ihre Schwerindustrie in Stahl und Fertigung zugunsten von Hightech-Produktion und Dienstleistungen aufgaben, mussten einen Weg finden, dies zu tun, ohne ihre Kohärenz zu gefährden.“
POLITISCHE LEHREN
Für Entscheidungsträger:innen lassen sich aus diesen Erkenntnissen eine Reihe von Lehren ziehen, so die Forschenden. Während das Bestreben, in neue Technologien vorzudringen, nachvollziehbar ist, können sich Städte nicht zu sehr verzetteln – sie müssen ein gewisses Maß an Kohärenz bewahren. „Der Grund ist, dass die Kompetenzen, die ihre bestehende Wirtschaftsstruktur stützen und in lokaler Infrastruktur, Arbeitskräften und Institutionen verankert sind, teuer im Unterhalt sind und daher möglichst kompakt gehalten werden sollten“, erklärt Neffke.
„Allerdings können größere Städte ein breiteres Spektrum an Kompetenzen aufrechterhalten, was ihnen mehr Spielraum für Diversifizierung gibt. Doch das Maß an Vielfalt, das eine Stadt realistisch unterstützen kann, ist an ihre Größe gebunden. Deshalb ist es wichtig Städte mit ähnlich großen Städten zu vergleichen und anzuerkennen, dass Diversifizierungsambitionen letztlich durch die Größe begrenzt sind.“
Service
ÜBER DIE STUDIE
Die Studie "The coherence of U.S. cities“ von Simone Daniotti, Matte Hartog und Frank Neffke wurde kürzlich in Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlicht (doi: 10.1073/pnas.2501504122).
ÜBER DEN COMPLEXITY SCIENCE HUB
Der Complexity Science Hub (CSH) ist Europas wissenschaftliches Zentrum zur Erforschung komplexer Systeme. Wir übersetzen Daten aus einer Reihe von Disziplinen – Wirtschaft, Medizin, Ökologie, Sozialwissenschaften – in anwendbare Lösungen für eine bessere Welt. Gegründet im Jahr 2016, forschen heute über 70 Wissenschafter:innen am CSH, getragen von der wachsenden Notwendigkeit für ein fundiertes Verständnis der Zusammenhänge, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen – vom Gesundheitswesen bis zu Lieferketten. Mit unseren interdisziplinären Methoden entwickeln wir die Kompetenzen, um Antworten auf heutige und zukünftige Herausforderungen zu finden.
Mitglieder des CSH sind AIT Austrian Institute of Technology, BOKU University, Central European University (CEU), IT:U Interdisciplinary Transformation University Austria, Medizinische Universität Wien, TU Wien, TU Graz, Universität für Weiterbildung Krems, Vetmeduni Wien, WU (Wirtschaftsuniversität Wien) und Wirtschaftskammer Österreich (WKO).
csh.ac.at
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