Ende Mai gewann Recep Tayyip Erdogan die Stichwahl um das Präsidentschaftsamt in der Türkei mit rund 52 Prozent der Stimmen. Nachdem Forschende des Complexity Science Hub bereits beim ersten Urnengang Anzeichen für Wahlmanipulation feststellten, zeigen aktuelle Untersuchungen ähnliche Effekte nun auch bei der Stichwahl.
Nach seinem Sieg in der Stichwahl steht Recep Tayyip Erdogan am Beginn einer weiteren fünfjährigen Amtszeit als Präsident der Türkei und steuert damit auf ein Vierteljahrhundert an der Macht zu. Forschende des Complexity Science Hub wiesen nun in einer aktuellen Studie nach, dass bei der Stichwahl in 1,9 Prozent der Wahlkreise ein statistisch eher unwahrscheinliches Ergebnis zugunsten Erdogans vorliegt. “In Gebieten mit kleineren Wahllokalen und weniger Wahlurnen kam es zu überhöhten Stimmenzahlen und Wahlbeteiligungen, zum Vorteil des türkischen Amtsinhabers”, erklärt Peter Klimek, Forscher am Complexity Science Hub.
ERDOGAN: 342.000 ZUSÄTZLICHE STIMMEN
Darüber hinaus wiesen Wahlbezirke mit zwei oder weniger Wahllokalen zusätzlich deutlich größere Schwankungen der Stimmenanteile zugunsten Erdogans vom ersten zum zweiten Wahlgang auf. “Solche Verzerrungen können auf das Vorhandensein von Wähler:innennötigung oder Einschüchterungstechniken hindeuten”, so Klimek. Auf der Grundlage ihres statistischen Modells schätzen die Forschenden, dass diese Schwankungen 342.000 zusätzliche Stimmen (0,64 Prozent) für Erdogan bedeuten.
WENIGER UNREGELMÄßIGKEITEN
Um Wahlmanipulationen aufzuspüren entwickelten die CSH-Forscher Peter Klimek und Stefan Thurner eine Art forensischen “Schnelltest”. Dabei suchen sie nach statistisch extrem unwahrscheinlichen Ergebnissen in einzelnen Wahlkreisen. So können sie sowohl Hinweise auf unerlaubten Druck - etwa durch Gewaltandrohung - auf Wähler:innen ("Voter Rigging") als auch auf illegales Mehrfachwählen ("Ballot Stuffing") aufspüren. Auf diese Weise haben sie bereits bei den türkischen Wahlen 2017 und 2018 sowie im ersten Wahlgang 2023 statistische Spuren von Wahlmanipulationen durch “Ballot Stuffing” gefunden. Diese Unregelmäßigkeiten nahmen allerdings von Wahl zu Wahl ab. Während 2018 noch 8,5 Prozent der Wahlkreise betroffen waren, sank diese Zahl von 2,4 Prozent im ersten Wahlgang 2023 auf 1,9 Prozent in der Stichwahl.
RICHTUNG ILLIBERALER DEMOKRATIE
Die entwickelten forensischen Tests alleine können nicht beweisen, dass es tatsächlich zu Wahlbetrug gekommen ist. Sie zeigen jedoch, dass bestimmte Arten von Wahlbetrug auf Basis der Daten nicht ausgeschlossen werden können. Sie erlauben zudem genauer einzugrenzen, welche Art von Wahlbetrug in welcher Region wie stark vorgelegen sein könnte. Das ermöglicht eine umfassendere und zielgerichtetere Prüfungen der Integrität von Wahlen.
“Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die türkischen Wahlen auch weiterhin von Unregelmäßigkeiten betroffen sind, die auf Wahlbetrug hinweisen können. Diese statistischen Irregularitäten waren zwar nicht groß genug, um das Ergebnis der Wahlen 2023 allein zu bestimmen, aber sie besitzen das Potenzial das politische Spielfeld in der Türkei noch weiter in Richtung einer illiberalen Demokratie zu verschieben”, so Klimek.
ZUR STUDIE
Die Studie “Forensic analysis of the Turkey 2023 presidential election reveals extreme vote swings in remote areas” wurde kürzlich am Preprint-Server “arXiv” veröffentlicht.
Die Studie “Forensic analysis of the Turkey 2023 presidential election reveals extreme vote swings in remote areas” wurde kürzlich am Preprint-Server “arXiv” veröffentlicht.
ÜBER DEN COMPLEXITY SCIENCE HUB
Der Complexity Science Hub (kurz: CSH Vienna) wurde mit dem Ziel gegründet, Big Data zum Nutzen der Gesellschaft einzusetzen. Der CSH Vienna bereitet unter anderem große Datensätze systematisch und strategisch so auf, dass Auswirkungen von Entscheidungen in komplexen Situationen vorab getestet und systematisch bewertet werden können. Damit liefert der Complexity Science Hub die Grundlagen für eine evidenzbasierte Politik. https://www.csh.ac.at
Der Complexity Science Hub (kurz: CSH Vienna) wurde mit dem Ziel gegründet, Big Data zum Nutzen der Gesellschaft einzusetzen. Der CSH Vienna bereitet unter anderem große Datensätze systematisch und strategisch so auf, dass Auswirkungen von Entscheidungen in komplexen Situationen vorab getestet und systematisch bewertet werden können. Damit liefert der Complexity Science Hub die Grundlagen für eine evidenzbasierte Politik. https://www.csh.ac.at