Eine neue Studie des Complexity Science Hub (CSH) nimmt eine weitverbreitete Stadtplanungsstrategie unter die Lupe: die gezielte Durchmischung von Einkommensgruppen zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts. Die Ergebnisse zeigen – es kommt stark darauf an, wie Ausgewogenheit definiert wird.
Weltweit setzen Städte bei der Stadterneuerung auf Resilienz und Vielfalt. Die Grundidee klingt einfach: Wenn in einem Viertel Menschen mit unterschiedlichem sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund zusammenleben, stärkt das den Zusammenhalt, das Vertrauen und die gegenseitige Unterstützung in der Nachbarschaft. Ein gängiger Ansatz ist es daher, Haushalte mit unterschiedlichem Einkommen gezielt zu durchmischen.
In Rotterdam ist diese Idee in einer offiziellen Politik verankert: Die Stadt verfolgt das Ziel sogenannter „ausgewogener Viertel“, indem sie das Verhältnis von Immobilien mit niedrigen, mittleren und hohen Werten gezielt steuert. So sollen resiliente und sozial vernetzte Gemeinschaften entstehen. Doch eine neue Studie des Complexity Science Hub und der Technischen Universität Delft, veröffentlicht in npj Urban Sustainability, wirft erhebliche Zweifel daran auf, ob dieser Ansatz – der ähnlich auch in Städten wie Berlin oder New York zur Anwendung kommt – sein Versprechen einlöst.

Was als „ausgewogen“ gilt, hängt davon ab, wie man es definiert. Diese Karten zeigen drei verschiedene Wege, „Ausgewogenheit“ in Rotterdam zu messen. Ein Modell stuft wohlhabende Nordviertel als besonders ausgewogen ein – obwohl dort mittlere Einkommensgruppen fehlen. Andere Modelle sehen das anders. Die zentrale Erkenntnis: Eine vage Definition kann völlig unterschiedliche Bilder derselben Stadt zeichnen.
KEIN VERTRAUENSSCHUB
Das Forschungsteam analysierte Daten zu Immobilienwerten und Befragungen von Bewohner:innen in ganz Rotterdam, um zu untersuchen, wie sich diese Politik auf den sozialen Zusammenhalt auswirkt.
Mehr als 3.000 mögliche Kombinationen von Immobilienwerten, die laut offizieller Definition als „ausgewogen“ gelten, wurden geprüft. „Es zeigte sich kaum ein Hinweis darauf, dass diese Mischungen einen Effekt erzielen“, sagt CSH-Forscher Guillermo Prieto-Viertel. Nur 2,1 % der untersuchten Konfigurationen standen überhaupt in Verbindung mit Veränderungen bei der gegenseitigen Hilfe in der Nachbarschaft – und diese gingen mit einem Rückgang einher. „Mit anderen Worten: Das meiste von dem, was die Stadt ‚Ausgewogenheit' nennt, hat wenig bis gar keinen Zusammenhang damit, wie sehr sich Nachbarn vertrauen oder einander helfen. Und in den wenigen Fällen, in denen es einen Zusammenhang gab, war dieser negativ", erklärt Prieto-Viertel.
FOKUS AUF MENSCHEN – NICHT AUF IMMOBILIENWERTE
„Unsere Studie zeigt, wie Strategien, die eigentlich dazu gedacht sind, Inklusion zu fördern, stattdessen beispielsweise Gentrifizierung verstärken können – vor allem dann, wenn mehrdeutige Indikatoren herangezogen werden, um soziale Ziele zu rechtfertigen. In einer Zeit steigender Wohnungsungleichheit ist das wichtiger denn je", sagt Prieto-Viertel.
Rotterdam steht mit seinem Ansatz nicht allein: Weltweit verfolgen Städte ähnliche Strategien – etwa Auckland, Singapur, London oder Toronto – die ebenfalls die soziale Durchmischung basierend auf Wohnungs- oder Immobilienstrategien fördern möchten.
WIEN – WOHIN GEHT ES?
„Wien wird international für sein starkes und inklusives Sozialwohnungsmodell anerkannt“, so Prieto-Viertel. Jedoch zeigen jüngste Entwicklungen aufkommende Belastungen wie steigende Mieten, längere Wartelisten und marktorientierte Bauweise. „Wenn die Wohnungspolitik beginnt, sich in Richtung Immobilienwert-Benchmarks zu verschieben, könnte sie unbeabsichtigt Wiens starke soziale Durchmischung schwächen.“
WAS BRAUCHT ES STATTDESSEN
„Vage oder übermäßig technische Indikatoren sollten nicht darüber entscheiden, wie Menschen leben. Rotterdams Beispiel zeigt, dass die Definition von ‚Ausgewogenheit' so vage ist, dass sowohl wohlhabende als auch ärmere Gebiete als ausgewogen bezeichnet werden können", erklärt Prieto-Viertel. „Das kann Erneuerungsmaßnahmen in die falsche Richtung lenken – und Gemeinschaften verdrängen, die in Wirklichkeit gar keinen Mangel an Zusammenhalt haben."
Stattdessen sollten Stadtentwicklungsstrategien auf direkter Messung sozialer Ergebnisse beruhen – wie Vertrauensniveaus, gegenseitige Hilfe oder zivilgesellschaftliches Engagement – und unter Einbeziehung der betroffenen Bewohner:innen entwickelt werden. Zum Beispiel können regelmäßige Befragungen von Gemeinschaften darüber, wie verbunden und unterstützt sie sich fühlen, weitaus umsetzbarere Erkenntnisse liefern als Immobilienwerte allein.
WIE STÄDTE KRISEN ÜBERSTEHEN
Resilienz wird zunehmend verwendet, um die Fähigkeit einer Stadt zu beschreiben, mit Schocks umzugehen – seien es Pandemien, Hitzewellen oder soziale Unruhen.
„Bei dieser Resilienz geht aber nicht nur um Infrastruktur oder Notfallpläne, sondern auch darum, ob Menschen einander in Krisenzeiten helfen", sagt Prieto-Viertel. „Und das hängt von sozialem Zusammenhalt und Vertrauen ab, die oft beschädigt werden, wenn Sanierungsmaßnahmen langjährige Gemeinschaften verdrängen. Wenn Politik Wohnwerte über menschliche Beziehungen stellt, kann sie unbeabsichtigt die Gemeinschaftsbindungen schwächen, die Städte wirklich resilient machen."
Prieto-Viertel führt ein Beispiel an: In den USA hat das Programm HOPE VI unter dem Motto der „Durchmischung“ Tausende Bewohner:innen von Sozialwohnungen verdrängt – und dabei langjährige soziale Netzwerke zerstört.
„Wenn wir Inklusion über Immobilienkennzahlen definieren, riskieren wir, genau den Zusammenhalt zu schwächen, den wir eigentlich fördern wollen“, warnt Prieto-Viertel. „Wir sollten stattdessen das messen, was wirklich zählt – wie Menschen miteinander umgehen und sich gegenseitig unterstützen.“
Service
ÜBER DIE STUDIE
Die Studie "The ambiguity of ‘balanced neighbourhoods’: how Rotterdam’s housing policy undermines urban social resilience" von G. Prieto-Viertel, M. Sirenko und C. Benitez-Avila wurde kürzlich in npj urban sustainability veröffentlicht (doi: 10.1038/s42949-025-00211-1).
ÜBER DEN COMPLEXITY SCIENCE HUB
Der Complexity Science Hub (CSH) ist Europas wissenschaftliches Zentrum zur Erforschung komplexer Systeme. Wir übersetzen Daten aus einer Reihe von Disziplinen – Wirtschaft, Medizin, Ökologie, Sozialwissenschaften – in anwendbare Lösungen für eine bessere Welt. Gegründet im Jahr 2016, forschen heute über 70 Wissenschafter:innen am CSH, getragen von der wachsenden Notwendigkeit für ein fundiertes Verständnis der Zusammenhänge, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen – vom Gesundheitswesen bis zu Lieferketten. Mit unseren interdisziplinären Methoden entwickeln wir die Kompetenzen, um Antworten auf heutige und zukünftige Herausforderungen zu finden.
Mitglieder des CSH sind AIT Austrian Institute of Technology, BOKU University, Central European University (CEU), IT:U Interdisciplinary Transformation University Austria, Medizinische Universität Wien, TU Wien, TU Graz, Universität für Weiterbildung Krems, Vetmeduni Wien, WU (Wirtschaftsuniversität Wien) und Wirtschaftskammer Österreich (WKO).
csh.ac.at
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