Wer Liefernetzwerke kennt, kann enormen Fortschritt bewirken: die Versorgungssicherheit verbessern, den Grünen Wandel überwachen und fördern, die Einhaltung der Menschenrechte stärken und Steuerhinterziehung reduzieren. Doch dazu braucht es internationale Allianzen, wie ein Forschungsteam unter Leitung des Complexity Science Hub nun in einer Studie in Science zeigt.
In Short:
- Lieferunterbrechungen verursachten 2021 einen geschätzten Schaden von 1,9 Billionen US-Dollar.
- Aufgrund einer neuen Generation von Daten ist es möglich, Liefernetzwerke auf Unternehmensebene abzubilden.
- Mehrwertsteuerdaten stellen die vielversprechendste Möglichkeit dar.
- Die EU könnte 20% des globalen BIP abbilden.
- Steuerlücke verkleinern: Betrügerische Aktivitäten im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer in der EU belaufen sich auf rund 130 Mrd. Euro jährlich.
- Ein genaueres Bild der Lieferverbindungen könnte den Grünen Wandel, sowie die Einhaltung der Menschenrechte stärken.
Auch wenn viele Firmen nur ihre unmittelbaren Handelspartner:innen kennen, so sind sie doch von unzähligen weiteren Gliedern im Liefernetzwerk abhängig. Kommt es irgendwo zu einem Lieferengpass, betrifft dieser nicht nur eine Firma, sondern auch ihre Zulieferer:innen und deren Zulieferer:innen, sowie ihre Kund:innen und deren Kund:innen. „Solche Versorgungsunterbrechungen verursachten im Jahr 2021 einen geschätzten Verlust von 2 % des weltweiten BIP – etwa 1,9 Billionen USD – und trugen erheblich zur hohen Inflation bei“, erklärt Anton Pichler vom Complexity Science Hub.
ERSTMALS NEUE DATEN UND UNGEAHNTE MÖGLICHKEITEN
"Lange Zeit war es undenkbar, die Weltwirtschaft auf Unternehmensebene zu analysieren, und noch viel weniger ihr komplexes Netzwerk von Lieferverflechtungen", so Pichler. Das ändert sich nun.
Fast ein Jahrhundert lang konnten nur aggregierte Daten analysiert werden, also die Durchschnittswerte ganzer Industriesektoren wie etwa der Automobilindustrie. Es war deshalb unmöglich vorherzusehen, wie sich einzelne Ausfälle auf das System auswirken. Was passiert, wenn Firma A die Produktion einstellen muss? Was, wenn ein Erdbeben eine Region B lahmlegt?
In den letzten Jahren hat eine Datenrevolution stattgefunden, wobei die Menge der Lieferketten-Daten explosionsartig angestiegen ist und die Qualität und der Informationsgehalt erheblich verbessert wurden. Neben aggregierten branchenbezogenen Daten gibt es jetzt umfangreiche Datensätze auf Unternehmensebene.
13 MILLIARDEN LIEFERVERBINDUNGEN
Dank einer neuen Generation von Daten auf Unternehmensebene und einer Reihe von innovativen Analysemethode stehen wir am Beginn einer neuen Zeitrechnung. Trotz der gigantischen Datenmenge – weltweit gibt es rund 300 Millionen Firmen, die jeweils durchschnittlich 40 inländische Zulieferer:innen haben, wodurch bis zu 13 Milliarden Lieferverbindungen entstehen – können Forschende nun die Verknüpfungen zwischen einzelnen Unternehmen abbilden.
BESTER ANSATZ: MEHRWERTSTEUERDATEN
Mehrwertsteuerdaten stellen dabei derzeit die vielversprechendste Option dar. Einzelne Länder wie Spanien, Ungarn oder Belgien, haben eine standardisierte Mehrwertsteuererhebung. So erfassen sie praktisch alle inländischen Business-to-Business-Geschäfte (B2B). Mit diesen Daten kann der gesamte nationale Handel eines Landes abgebildet werden.
STEUERHINTERZIEHUNG VON 130 MILLIARDEN EURO
In den meisten Ländern wie Deutschland, Österreich oder Frankreich, in denen die Mehrwertsteuer nicht für einzelne B2B-Umsätze, sondern nur kumuliert für einen bestimmten Zeitraum erhoben wird, ist das derzeit noch nicht möglich. „Dabei könnte eine standardisierte Erhebung auch den Verwaltungsaufwand für die Unternehmen verringern und erheblich zur Einhaltung der Steuervorschriften beitragen“, erklärt CSH-Forscher Christian Diem. Schätzungen zufolge belaufen sich die betrügerischen Aktivitäten im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer allein in der Europäischen Union (EU) auf jährlich 130 Milliarden Euro. Eine Steuerlücke, die massiv verkleinert werden könnte.
KLIMA, MENSCHENRECHTE UND VERSORGUNGSSICHERHEIT
Nicht nur im Kampf gegen Steuerhinterziehung, sondern auch für andere große Herausforderungen unserer Zeit ist es unerlässlich zu wissen, wie Versorgungsnetze – idealerweise auf globaler Ebene – aussehen, machen die Forschenden in ihrer Studie deutlich. „Für einzelne Firmen ist es so gut wie unmöglich sicherzustellen, dass alle Handelspartner:innen, deren Zulieferer:innen sowie die Zulieferer:innen ihrer Zulieferer:innen umweltschonend und menschenrechtskonform agieren. Würde das zentral in einem gigantischen Netzwerk erfasst, könnte man das viel eher gewährleisten“, betont Pichler.
EIN FÜNFTEL DER WELTWIRTSCHAFT AUF EINER KARTE
Der nächste Schritt besteht darin, Handelsdaten verschiedener Länder miteinander zu verknüpfen. Aktuell erfasst die EU den Warenhandel zwischen ihren Mitgliedsstaaten auf Unternehmensebene. Wenn sie jedoch auch Dienstleistungen einbezieht und sie mit Mehrwertsteuerdaten verknüpft, könnte dies zu einem umfassenden länderübergreifenden Netzwerk auf Unternehmensebene führen. Dieses würde fast 20 % des weltweiten BIP ausmachen, so die Autor:innen. Den rechtlichen Grundstein dafür legte die Europäische Kommission durch ihren Vorschlag "Mehrwertsteuer im digitalen Zeitalter".
"Leider ist das noch weit von der Realisierung entfernt", sagt Stefan Thurner, Letztautor der Studie und Präsident des Complexity Science Hub. "Bisher haben wir keinen einzigen Fall, wo die Lieferkettennetzwerke von zwei Ländern miteinander verbunden und fusioniert wurden. Dies wäre ein entscheidender nächster Schritt."
INTERNATIONALE ALLIANZ
Für ein internationales Bild der Lieferverflechtungen müssen verschiedene Datensätze verknüpft, Analyseinstrumente entwickelt und eine sichere Infrastruktur für die Speicherung und Verarbeitung großer Mengen sensibler Informationen eingerichtet werden. „Um dieses Vorhaben voranzutreiben, ist ein starkes internationales Bündnis verschiedener Interessengruppen erforderlich, darunter nationale Regierungen, statistische Ämter, internationale Organisationen, Zentralbanken, der Privatsektor und die Wissenschaft“, so Thurner.
ERSTE SCHRITTE
Diese erste Kollaboration der Autor:innen aus der Komplexitätswissenschaft, Makroökonomie, Lieferkettenforschung und Statistik soll nun den Grundstein legen. Diem, Thurner, Pichler und ihre Kolleg:innen von der University of Cambridge und der University of Oxford haben dazu am 5. und 6. Juni 2023 Vertreter:innen von europäischen Ministerien, Nationalbanken, statistischen Ämtern und Forscher:innen zu einem ersten Workshop in Wien eingeladen.
ÜBER DIE STUDIE
Das Paper "Building an Alliance to Map Supply Networks" wird am 19. Oktober 2023 in Science veröffentlicht.
ÜBER DEN COMPLEXITY SCIENCE HUB
Der Complexity Science Hub (kurz: CSH Vienna) wurde mit dem Ziel gegründet, Big Data zum Nutzen der Gesellschaft einzusetzen. Der CSH Vienna bereitet unter anderem große Datensätze systematisch und strategisch so auf, dass Auswirkungen von Entscheidungen in komplexen Situationen vorab getestet und systematisch bewertet werden können. Damit liefert der Complexity Science Hub die Grundlagen für eine evidenzbasierte Politik. https://www.csh.ac.at