Welche zentrale Rolle das Firmenliefernetzwerk bei klimapolitischen Maßnahmen spielen sollte, zeigt eine neue Studie des Complexity Science Hub, die in Nature Sustainability veröffentlicht wurde.
Der Weltklimarat IPCC geht davon aus, dass „rasche und weitreichende Veränderungen“ erforderlich sind, um einen katastrophalen Klimawandel zu verhindern. „Die Transformation der Wirtschaft in Richtung Klimaneutralität geht allerdings immer mit einem gewissen ökonomischen Stress einher – manche Branchen und Arbeitsplätze verschwinden, dafür tauchen neue auf“, erklärt Studienautor Johannes Stangl vom Complexity Science Hub. Wie können klimapolitische Maßnahmen umgesetzt und dabei der wirtschaftliche Schaden möglichst geringgehalten werden?
Ein CSH-Team hat dazu eine neue Methode entwickelt. „Um die Auswirkungen klimapolitischer Maßnahmen einschätzen zu können, ist es nicht nur wichtig, die CO2-Emissionen von Unternehmen zu kennen, sondern auch ihre Rolle in der Ökonomie eines Landes zu verstehen“, so Stangl.
ZWANZIG PROZENT CO2 EINSPAREN
Dazu verwendeten die Forschenden einen Datensatz aus Ungarn, der fast 250.000 Unternehmen sowie ihre mehr als eine Million Lieferbeziehungen enthält und damit quasi die gesamte ungarische Volkswirtschaft abbildet. In verschiedenen Szenarien – alle mit dem Ziel zwanzig Prozent CO2-Emissionen einzusparen – untersuchten sie, was es für die gesamte Wirtschaft eines Landes bedeutet, wenn bestimmte Firmen ihre Produktion einstellen müssten.
„Im ersten Szenario haben wir uns angesehen, was passiert, wenn wir nur die CO2-Emissionen berücksichtigen“, erklärt Stefan Thurner vom Complexity Science Hub. Um zwanzig Prozent CO2-Emmissionen einzusparen, müssten lediglich sieben Firmen – die sieben größten Emittenten des Landes – ihren Betrieb einstellen, so die Ergebnisse der Studie. „Gleichzeitig gingen damit aber rund 29 Prozent der Arbeitsplätze und 32 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes verloren. Das ist vollkommen unrealistisch umzusetzen, kein:e Politiker:in der Welt würde so etwas tun“, so Thurner.
Ähnlich schwerwiegende ökonomische Folgen entstehen, wenn die CO2-Emissionen pro Arbeitsplatz, also die CO2-Emissionen und die Größe der Firmen, berücksichtigt werden.
ZWEI AUSSCHLAGGEBENDE FAKTOREN
„Ausschlaggebend ist es zwei Faktoren zu kennen – die CO2-Emissionen eines Unternehmens, aber auch welches systemische Risiko mit diesem Unternehmen verbunden ist, also welche Rolle eine Firma im Liefernetzwerk einnimmt“, erklärt Stangl. Diesen Risikoindex, den sogenannten ESRI (Economic Systemic Risk Index), haben CSH-Forschende in einer früheren Arbeit entwickelt. Er schätzt den gesamten wirtschaftlichen Verlust ein, wenn das jeweilige Unternehmen die Produktion einstellt.
Berücksichtigen die Forschenden diese beiden Faktoren – die CO2-Emissionen eines Unternehmens und seinen Risikoindex für die Wirtschaft des Landes – ergibt sich ein neues Ranking von Unternehmen, die relativ zu ihrem wirtschaftlichen Impact für große Emissionen verantwortlich sind.
Um eine Reduktion der CO2-Emissionen um zwanzig Prozent zu bewirken, müssten die Top 23 Unternehmen auf der Liste ihren Betrieb einstellen. Dadurch würden jedoch nur je zwei Prozent der Arbeitsplätze und der Wirtschaftsleistung verloren gehen.
"Das bedeutet natürlich nicht, dass wir raten würden Firmen zu schließen. Vielmehr zeigt unsere Studie, dass es eine wesentliche Rolle für die Wirtschaft eines Landes spielt, welche Firmen - zum Beispiel als Konsequenz einer bestimmten Klimapolitik - im schlimmsten Fall zusperren müssten", so Stangl. Um die Konsequenzen einer bestimmten Klimapolitik besser abschätzen zu und dem entgegenwirken zu können, sei es daher wichtig, das Liefernetzwerk auf Unternehmensebene zu kennen.
DATEN IN ÖSTERREICH NICHT VORHANDEN
„In der Realität würden Firmen natürlich versuchen neue Lieferant:innen und Abnehmer:innen zu finden. Diesen Aspekt wollen wir in einer weiterentwickelten Version unseres Modells mitberücksichtigen, um ein noch umfassenderes Bild der grünen Transformation zu erlangen. Unsere Studie zeigt aber deutlich, dass wir das Liefernetzwerk auf Firmenebene mitberücksichtigen müssen, wenn wir evaluieren möchten, was eine bestimmte Klimapolitik bewirken wird“, sind sich die Studienautoren einig. Nur so könne man abschätzen, welche Unternehmen von einer bestimmten Maßnahme betroffen sein werden und wie sich das auf ihre Handelspartner:innen auswirkt.
In Österreich fehlen Daten auf Unternehmensebene bislang weitgehend. Vielmehr werden Risikoeinschätzungen in der Regel auf Sektorenebene getätigt – also etwa, wie stark die gesamte Automobilindustrie oder Tourismusbranche von einer Maßnahme betroffen ist.
„Dadurch entsteht ein Nachteil gegenüber anderen Ländern wie Ungarn, Spanien oder Belgien, wo detaillierte Daten auf Unternehmensebene vorhanden sind. In diesen Ländern wird die Mehrwertsteuer nicht kumulativ, sondern standardisiert für alle Business-to-Business-Geschäfte erfasst, wodurch umfangreiche Informationen über das Liefernetzwerk des Landes verfügbar sind“, erklärt Thurner.
Service
ÜBER DIE STUDIE
Die Studie "Firm-level supply chains to minimize unemployment and economic losses in rapid decarbonization scenarios" wurde in Nature Sustainability veröffentlicht (doi: 10.1038/s41893-024-01321-x).
ÜBER DEN COMPLEXITY SCIENCE HUB
Der Complexity Science Hub (CSH) ist Europas wissenschaftliches Zentrum zur Erforschung komplexer Systeme. Wir übersetzen Daten aus einer Reihe von Disziplinen – Wirtschaft, Medizin, Ökologie, Sozialwissenschaften – in anwendbare Lösungen für eine bessere Welt. Gegründet im Jahr 2015, forschen heute über 70 Wissenschafter:innen am CSH, getragen von der wachsenden Notwendigkeit für ein fundiertes Verständnis der Zusammenhänge, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen – vom Gesundheitswesen bis zu Lieferketten. Mit unseren interdisziplinären Methoden entwickeln wir die Kompetenzen, um Antworten auf heutige und zukünftige Herausforderungen zu finden.
Mitglieder des CSH sind AIT Austrian Institute of Technology, BOKU, Central European University (CEU), Medizinische Universität Wien, TU Wien, TU Graz, Universität für Weiterbildung Krems, Vetmeduni Wien, Wirtschaftsuniversität Wien (WU) und Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ).
csh.ac.at
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