In einer neuen Theorie kombinieren Forschende erstmals innere und äußere Prozesse, um zu verstehen, warum wir glauben, was wir glauben.
Die Überzeugungen, die wir haben, entstehen aus einem komplexen Zusammenspiel zwischen unserem inneren und äußeren Leben – zwischen dem, was wir selbst glauben, den kognitiven Prozessen auf persönlicher Ebene, und unseren Beziehungen zu anderen, also dem, was andere glauben. Gemeinsam formen sie unsere Weltanschauungen und beeinflussen, wie bereit wir sind, diese Überzeugungen zu ändern, wenn wir auf neue Informationen stoßen.
In der Vergangenheit wurden diese beiden Ebenen größtenteils isoliert voneinander untersucht: Psycholog:innen haben die kognitiven Prozesse auf individueller Ebene modelliert, während Wissenschafter:innen aus Bereichen wie der computergestützten Sozialwissenschaft und der statistischen Physik die Verbreitung und Veränderung von Überzeugungen innerhalb einer Gesellschaft zu verstehen versuchten.
DIE THEORIE DER NETZWERKE VON ÜBERZEUGUNGEN
„Mit der Theorie der Netzwerke von Überzeugungen kombinieren wir erstmals das Zusammenspiel von individuellen und sozialen Überzeugungsdynamiken und berücksichtigen dabei zudem, wie Individuen die Überzeugungen ihrer Umgebung wahrnehmen“, erklären Mirta Galesic und Henrik Olsson vom Complexity Science Hub und dem Santa Fe Institute. Diese Theorie, die sie gemeinsam mit Jonas Dalege von der Universität Amsterdam entwickelten, wurde kürzlich in Psychological Review veröffentlicht.
Die Theorie der Netzwerke von Überzeugungen „ist die erste, die explizit zwischen persönlichen, sozialen und externen Dissonanzen, also Unstimmigkeiten, unterscheidet“, schreiben die Autor:innen. „Um vollständig zu verstehen, wann und warum Individuen ihre Überzeugungen ändern, müssen wir verstehen, wie diese Dissonanzen gemeinsam zu verschiedenen sozialen Phänomenen führen.“
EIN WERKZEUG GEGEN POLARISIERUNG UND CO
Basierend auf ihrer Theorie haben die Forschenden ein Modell entwickelt, das sie in zwei großen Umfragen validierten. Diese Modell könnte auf eine Vielzahl von realen Problemen angewendet werden. So könnte es beispielsweise neue Instrumente zur Bekämpfung der zunehmenden Polarisierung in der Welt ermöglichen. „Um Polarisierung zu verstehen und etwas dagegen tun zu können, müssen wir über nur individuelle oder soziale Antworten hinausblicken“, sagt Dalege. „Teilantworten können zu gefährlichen politischen Maßnahmen führen. Man könnte die gegenteiligen Effekte von dem erzielen, was man anstrebt.“
DREI ANNAHMEN
Die dem Modell zugrundeliegende Theorie der Netzwerke von Überzeugungen basiert auf drei wesentlichen Annahmen:
Erstens gehen die Forschenden davon aus, dass Überzeugungen als zwei interagierende Klassen von Netzwerken dargestellt werden können: intern und extern. Das interne Netzwerk besteht aus verschiedenen miteinander verbundenen Überzeugungen – zum Beispiel könnten die Überzeugungen einer Person über Impfungen mit ihren Überzeugungen über Wissenschaft, Wirtschaft und Religion zusammenhängen. Das externe Netzwerk beschreibt, wie die sozialen Überzeugungen einer Person mit den Überzeugungen anderer in Beziehung stehen und umgekehrt.
Zweitens möchten Menschen die Dissonanz in ihren Überzeugungen auf persönlicher, sozialer und externer Ebene möglichst reduzieren. Eine Dissonanz auf persönlicher Ebene würde bedeuten, dass jemand zwei widersprüchliche Überzeugungen hat – zum Beispiel, dass Impfungen wirksam, aber auch unsicher sind. Soziale Dissonanz entsteht, wenn die Überzeugungen einer Person im Widerspruch zu dem stehen, was sie glaubt, dass die Menschen in ihrem sozialen Umfeld glauben. Externe Dissonanz tritt auf, wenn die sozialen Überzeugungen einer Person – ihre Wahrnehmungen von anderen – nicht mit den tatsächlichen Überzeugungen anderer übereinstimmen.
Die dritte Annahme ist, dass das Ausmaß der Dissonanz, die eine Person empfindet, davon abhängt, wie viel Aufmerksamkeit sie Inkonsistenzen in ihren Überzeugungen schenkt. Dies kann je nach persönlichen und kulturellen Vorlieben sowie je nach Thema stark variieren.
QUANTITATIVES MODELL
Für die Erstellung des quantitativen Modelles ihrer Theorie, verwendeten die Autor:innen eine Analogie aus der statistischen Physik. „In diesem Fall übertragen wir psychologische Konzepte auf Konzepte der statistischen Physik“, erklärt Olsson. „Dabei übernimmt die potenzielle Dissonanz die Rolle der Energie. Die Aufmerksamkeit übernimmt die Rolle der Temperatur. So können wir mithilfe bekannter Formeln der statistischen Physik die komplexen Dynamiken von Überzeugungsnetzwerken modellieren.“
ANALOGIEN UND IHRE GRENZEN
Forschende, die sich mit der Dynamik von Überzeugungen befassen, verwenden solche Analogien, also Konzepte und Methoden aus anderen Bereichen, häufig, um unsere komplexen kognitiven und sozialen Systeme zu verstehen und zu modellieren. Dass es dabei allerdings einiges zu bedenken gilt, griffen Olsson und Galesic in einer weiteren kürzlich veröffentlichten Studie auf. „Wir müssen solche Analogien ernsthaft überprüfen und hinterfragen", betont Galesic. "Alle Analogien können nützlich sein, aber alle werden irgendwann an ihre Grenzen stoßen. Der Trick besteht darin zu erkennen, wann eine Analogie zu weit getrieben wurde", so die Forscherin. Aus diesem Grund schlagen sie Leitlinien für die Verwendung von Analogien bei der Entwicklung von Modellen der Glaubensdynamik vor.
VERSTEHEN UND REFLEKTIEREN
Die jetzt veröffentlichte Theorie der Netzwerke von Überzeugungen erlaubt es Forschenden, das Zusammenspiel von Individuen und ihrer Umgebung, von wahrgenommenen und tatsächlichen Überzeugungen zu modellieren und dabei auch zu berücksichtigen, wie Überzeugungen sich ändern, wenn wir verschiedenen Teilen unseres Überzeugungssystems Aufmerksamkeit schenken.
„Manchmal schenken wir unserer persönlichen Dissonanz mehr Aufmerksamkeit und möchten sicherstellen, dass unsere Überzeugungen mit unseren eigenen Werten übereinstimmen“, erklärt Galesic. „Manchmal, wenn wir uns zum Beispiel in einer sozial sensiblen Situation befinden, schenken wir der Dissonanz zwischen unseren eigenen und den Überzeugungen anderer mehr Aufmerksamkeit. In solchen Situationen könnten wir unsere Überzeugungen ändern, um dem wahrgenommenen sozialen Druck zu entsprechen.“
Service
ÜBER DIE STUDIE
Die Studie "Networks of Beliefs: An Integrative Theory of Individual- and Social-Level Belief Dynamics" von J. Dalege, M. Galesic, and H. Olsson wurde in Psychological Review veröffentlicht.
ÜBER DEN COMPLEXITY SCIENCE HUB
Der Complexity Science Hub (CSH) ist Europas wissenschaftliches Zentrum zur Erforschung komplexer Systeme. Wir übersetzen Daten aus einer Reihe von Disziplinen – Wirtschaft, Medizin, Ökologie, Sozialwissenschaften – in anwendbare Lösungen für eine bessere Welt. Gegründet im Jahr 2016, forschen heute über 70 Wissenschafter:innen am CSH, getragen von der wachsenden Notwendigkeit für ein fundiertes Verständnis der Zusammenhänge, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen – vom Gesundheitswesen bis zu Lieferketten. Mit unseren interdisziplinären Methoden entwickeln wir die Kompetenzen, um Antworten auf heutige und zukünftige Herausforderungen zu finden.
Mitglieder des CSH sind AIT Austrian Institute of Technology, BOKU University, Central European University (CEU), Medizinische Universität Wien, TU Wien, TU Graz, Universität für Weiterbildung Krems, Vetmeduni Wien, Wirtschaftsuniversität Wien (WU) und Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ).
csh.ac.at
Die Studie "Networks of Beliefs: An Integrative Theory of Individual- and Social-Level Belief Dynamics" von J. Dalege, M. Galesic, and H. Olsson wurde in Psychological Review veröffentlicht.
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