Forschende haben einen Weg gefunden, um zu messen, wie nahe Städte weltweit dem Ideal einer 15-Minuten-Stadt sind, und dabei erhebliche Ungleichheiten entdeckt.
[Wien, 16.09.2024] Die 15-Minuten-Stadt, ein Konzept, bei dem die wichtigsten Einrichtungen des täglichen Lebens innerhalb von 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichbar sein sollen, ist in den letzten Jahren in der Stadtplanung immer beliebter geworden, da es Lösungen für mehrere drängende Herausforderungen in städtischen Gebieten bietet – wie etwa in den Bereichen Verkehr, Umweltverschmutzung, soziale Isolation und Lebensqualität. Da inzwischen mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten lebt – und diese Zahl weiter steigt – werden diese Herausforderungen immer drängender.
In einer kürzlich in Nature Cities veröffentlichten Studie haben Forschende nun quantifiziert, wie nahe Städte weltweit dem Ideal der 15-Minuten-Stadt bereits gekommen sind. Das Forschungsteam unter der Leitung von Vittorio Loreto, Mitglied der External Faculty des Complexity Science Hub, Professor an der Universität Sapienza in Rom und Direktor und Leiter der Sustainable Cities Research Line bei den Sony Computer Science Laboratories - Rom (Sony CSL - Rom), visualisierte diese Ergenbnisse schließlich in einer frei zugänglichen Weltkarte (whatif.sonycsl.it/15mincity), wo jede:r die Städte der Welt erkunden und in Bezug auf Erreichbarkeit der wichtigsten Einrichtungen für das tägliche Leben vergleichen kann.
STÄDTE IM VERGLEICH
Mithilfe dieser Quantifizierung hat das Team Städte auf der ganzen Welt bewertet und verglichen. „Unsere Ergebnisse zeigen erhebliche Unterschiede sowohl innerhalb der Städte als auch zwischen verschiedenen Regionen, was diese Erreichbarkeit betrifft. Städtische Gebiete weisen somit ein hohes Maß an Ungleichheit auf“, erklärt Loreto. Beispielsweise können Gebiete in einer Stadt, wo viele Dienstleistungen angeboten werden, teurer sein, und nur diejenigen, die es sich leisten können, können ebendort leben.
„Im weltweiten Vergleich schneiden viele Städte in Europa in Bezug auf die Erreichbarkeit sehr gut ab. Wien ist ein hervorragendes Beispiel dafür. In den meisten Städten in den USA, in Afrika und in Teilen Asiens hingegen, dauert es wesentlich länger, um grundlegende Einrichtungen und Dienstleistungen zu erreichen", so Loreto.
UMSTRUKTURIEREN, MEHR RESSOURCEN ODER BEIDES?
Das Forschungsteam beließ es nicht bei der Feststellung dieser Ungleichheiten, sondern ging noch einen Schritt weiter: Was wäre, wenn dieselben Ressourcen und Dienstleistungen umverteilt würden? Wäre es möglich, die Erreichbarkeit zu verbessern, was zu weniger Ungleichheit in einer Stadt führen würde? Oder sind dafür mehr Ressourcen erforderlich? Kurz gesagt: Benötigt ein Stadtviertel beispielsweise einen massiven Ausbau des Verkehrsnetzes, um wichtige Einrichtungen zu erreichen, oder eine gleichmäßigere Verteilung von wichtigen Einrichtungen in der Nähe?
RADIKAL NEUES PARADIGMA
Um diese Fragen zu beantworten, haben die Forschenden einen Algorithmus entwickelt, der helfen soll zu verstehen, wie man die Anzahl der Menschen, die in einem bestimmten Stadtgebiet Zugang zu den wichtigsten Einrichtungen haben, erhöhen und Ungleichheiten verringern kann. Darüber hinaus können die Forschenden auch simulieren, wie eine Stadt auf eine Erhöhung der Dienstleistungen reagieren würde, bis sie schließlich den 15-Minuten-Rahmen erreicht, und wie die Anzahl der dafür benötigten Dienstleistungen zwischen verschiedenen Städten variieren kann.
„Wir stellen erhebliche Unterschiede zwischen den Städten fest, was die Mindestanzahl an zusätzlichen Diensten angeht, die erforderlich sind, um das Konzept der 15-Minuten-Stadt zu erfüllen. Noch interessanter ist die Beobachtung, dass in vielen Fällen das Konzept einer auf Nähe basierenden Stadt gar nicht denkbar ist und ein radikal neues Paradigma entwickelt werden muss“, sagt Loreto.
IN RICHTUNG EINER WERTORIENTIERTEN STADTPLANUNG
Warum das alles wichtig ist? Grundsätzlich hilft es, die Städte, in denen wir leben, besser zu verstehen – die komplexen Herausforderungen, mit denen die Bewohner:innen konfrontiert sind, und die verschiedenen potenziellen Lösungen. Es wird auch deutlich, dass keine Stadt der anderen gleicht, was bedeutet, dass jede Stadt einzigartige, maßgeschneiderte Ansätze für ihre Komplexität erfordert. Die 15-Minuten-Stadt ist daher nur eines von vielen Konzepten, die zur Bewältigung dieser Herausforderungen beitragen können. In der Studie kommen die Forschenden zu dem Schluss, dass das rein zeitbasiertes Ideal einer Stadt nicht ausreicht, um eine lebenswerte Stadt zu schaffen. Stattdessen sollten wir damit beginnen, wertorientierte Städte zu schaffen, in denen die lokale Bevölkerungsdichte sowie sozioökonomische und kulturelle Faktoren berücksichtigt werden.
Mit Hilfe eines Modells, wie dem hier vorgestellten, können sich Stadtplaner:innen, Ingenieur:innen und politische Entscheidungsträger:innen darauf konzentrieren, maßgeschneiderte Lösungen für ihre Städte zu entwickeln, anstatt pauschale Ansätze zu verfolgen. So wird sichergestellt, dass die Städte für ein breiteres Bevölkerungsspektrum zugänglicher werden.
Der Aufbau gerechterer Städte hat enorme Vorteile. Ein besserer Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung, Kultur, Freizeitangeboten und die vielen Möglichkeiten, die Städte als Zentren menschlicher Kreativität bieten, fördern nicht nur die individuelle Lebensqualität, sondern tragen auch zu sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Resilienz bei.
Service
Die Studie “A universal framework for inclusive 15-minute cities,” von M. Bruno, H. P. Monteiro Melo, B. Campanelli und V. Loreto wurde in Nature Cities publiziert (doi: 10.1038/s44284-024-00119-4).
Über den Complexity Science Hub
Der Complexity Science Hub (CSH) ist Europas wissenschaftliches Zentrum zur Erforschung komplexer Systeme. Wir übersetzen Daten aus einer Reihe von Disziplinen – Wirtschaft, Medizin, Ökologie, Sozialwissenschaften – in anwendbare Lösungen für eine bessere Welt. Gegründet im Jahr 2016, forschen heute über 70 Wissenschafter:innen am CSH, getragen von der wachsenden Notwendigkeit für ein fundiertes Verständnis der Zusammenhänge, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen – vom Gesundheitswesen bis zu Lieferketten. Mit unseren interdisziplinären Methoden entwickeln wir die Kompetenzen, um Antworten auf heutige und zukünftige Herausforderungen zu finden.
Mitglieder des CSH sind AIT Austrian Institute of Technology, BOKU University, Central European University (CEU), Medizinische Universität Wien, TU Wien, TU Graz, Universität für Weiterbildung Krems, Vetmeduni Wien, Wirtschaftsuniversität Wien (WU) und Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ).
csh.ac.at
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