Eine aktuelle Studie des Complexity Science Hub (CSH) zeigt, dass geflüchtete Menschen in Österreich fast vier Mal häufiger umziehen als andere Menschen nicht-österreichischer Nationalität. Darüber hinaus spielen Geschlecht und Herkunftsland eine einflussreiche Rolle.
[Wien, 18.11.2024] Während der Zugang zum Gesundheitssystem und die Integration von geflüchteten Menschen in den Arbeitsmarkt im Allgemeinen genauer untersucht werden, ist über die Stabilität ihrer Wohnsituation weniger bekannt. Forschende des CSH quantifizierten deshalb nun alle gemeldeten Wohnbewegungen von Menschen nicht-österreichischer Nationalität, die zwischen November 2022 und November 2023 zumindest zeitweilig ihren Hauptwohnsitz in Österreich hatten. Insgesamt waren dies 1,6 Millionen Menschen, davon 17% geflüchtete Personen und 83% Migrant:innen, also Menschen, die freiwillig nach Österreich gekommen und in ihrem Heimatland nicht von Verfolgung bedroht sind.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass geflüchtete Menschen eine sehr viel größere Instabilität aufweisen, was ihre Wohnsituation betrifft“, erklärt die CSH-Doktorandin Ola Ali. Sie ziehen innerhalb des untersuchten Jahres im Durchschnitt 3,8 Mal häufiger um als Migrant:innen – selbst wenn sie aus dem gleichen Land kommen. Während fast 60% der Migrant:innen ihre Adresse nicht wechselten, sind es bei geflüchteten Personen nur 33%.
WOHNMOBILITÄT ALS INDIKATOR
Obwohl Wohnmobilität mit Wohnverbesserungen, persönlichen Entscheidungen oder Arbeitsplatzwechseln in Verbindung stehen kann, ist eine längere Wohnzeit entscheidend, um eine Bindung an einen Ort zu entwickeln und Teil der Nachbarschaft zu werden. Der mehrmalige Wechsel der Hauptwohnadresse pro Jahr kann zu verschiedenen Problemen führen, etwa zu finanzieller Belastung, zu Schwierigkeiten beim Zugang zu Bildungs- und Gesundheitsdiensten und dazu, dass keine dauerhaften Beziehungen in der Nachbarschaft aufgebaut können.
„Wenn wir herausfinden möchten, wie gut es Menschen in Österreich geht, sollte demnach auch miteinbezogen werden, wie stabil ihre Wohnsituation ist“, so Ali.
GESCHLECHT UND HERKUNFTSLAND
Die aktuelle Studie zeigt, dass männliche Geflüchtete fast doppelt so häufig ihren Wohnort wechseln wie weibliche.
„Auch in Bezug auf das Herkunftsland sehen wir deutliche Unterschiede. Geflüchtete aus Syrien wechseln ihren Wohnort am häufigsten. Sie ziehen innerhalb dieses Jahres im Durchschnitt 0,55-mal um – was 2,2-mal häufiger ist als geflüchtete Menschen aus der Ukraine, 1,7-mal häufiger als geflüchtete Menschen aus Afghanistan und fast 5,5-mal häufiger als Migrant:innen aus Deutschland“, so Ali. Migrant:innen aus Syrien ziehen zwar nur halb so oft um wie syrische Flüchtlinge, aber immer noch genauso oft wie ukrainische Flüchtlinge.

Ländervergleich der Bewegungsprofile der drei häufigsten Herkunftsländer von Geflüchteten in Österreich (Syrien, Ukraine und Afghanistan) und des häufigsten Herkunftslands anderer Migrant:innen (Deutschland).
Unter den sogenannten „Churning movers“, also Menschen, die besonders häufig und oft innerhalb eines Bezirkes umziehen, was auf eine instabile Lebenssituation hindeutet, stammen fast 40% aus Syrien, gefolgt von der Ukraine (17%) und Afghanistan (12%).

Sogenannte "Churning Movers" sowohl in der Flüchtlingsbevölkerung als auch in der Nicht-Flüchtlingsbevölkerung.
RECHTLICHER STATUS
„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Anzahl der Wohnbewegungen mit dem rechtlichen Status zusammenhängen könnte, der beim Eintritt nach Österreich definiert wurde und der Einfluss auf verschiedene Lebensaspekte hat“, erklärt Ali. Es könne für die Wohnstabilität einen Unterschied machen, ob jemand asylberechtigt, subsidiär schutzberechtigt ist oder als vertriebene Person gilt. Während beispielsweise die Mehrheit der syrischen Geflüchteten asylberechtigt sind (81%), gelten fast alle geflüchteten Menschen aus der Ukraine als vertriebene Personen (99%).
RICHTUNG WIEN
Was die Bewegungsrichtung in der Flüchtlingsbevölkerung betrifft, gibt es eine erhebliche Bewegung in Richtung Wien, wobei 16,2 % der Bewegungen nach Wien gerichtet sind im Vergleich zu 4,7 %, die aus Wien heraus gerichtet sind. Im Gegensatz dazu richten sich nur 4,7 % der Wohnortwechsel von Migrant:innen nach Wien, im Vergleich zu 5,8 %, die aus Wien heraus gerichtet sind.
MIGRATION WIRD MEHR WERDEN
Ende 2023 erreichte die Zahl der gewaltsam vertriebenen Menschen laut UNHCR mit 117,3 Millionen einen neuen Höchststand. Diese Zahl hat sich in weniger als einem Jahrzehnt verdoppelt – hauptsächlich aufgrund von Gewalt und Konflikten. Und es liegt nahe, dass sie aus Gründen weiter steigen wird: „Erstens, wächst die Weltbevölkerung. Bis 2050 wird es etwa 20% mehr Menschen geben. Zweitens werden mangelnde Wasserversorgung, Ernährungsunsicherheit und Naturkatastrophen mehr Menschen zur Migration zwingen – ebenso wie wachsende politische Instabilität und generalisierte Gewalt“, erklärt Rafael Prieto-Curiel, der die Forschungsgruppe zu Migration am CSH leitet.
„Angesichts der weltweit steigenden Flüchtlingszahlen und damit geflüchtete Menschen in einem neuen Land Fuß fassen können, ist ein umfassendes Verständnis der Flüchtlingsbevölkerung und ein ganzheitliches Verständnis ihrer Lebensumstände unbedingt erforderlich“, betont Prieto-Curiel. „Deshalb wollen wir mit dieser Studie darauf hinweisen, dass es hier Unterschiede gibt, die bislang wenig Beachtung fanden und die eine wesentlichen Einfluss haben können“, ergänzt Ali.
Service
Die Studie “Quantifying the Stability of Refugee Populations: A Case Study in Austria” von O. Ali, E. Dervic, R. Stütz, L. Nedelkoska und R. Prieto-Curiel wurde in Genus publiziert (doi: 10.1186/s41118-024-00231-2).
Über den Complexity Science Hub
Der Complexity Science Hub (CSH) ist Europas wissenschaftliches Zentrum zur Erforschung komplexer Systeme. Wir übersetzen Daten aus einer Reihe von Disziplinen – Wirtschaft, Medizin, Ökologie, Sozialwissenschaften – in anwendbare Lösungen für eine bessere Welt. Gegründet im Jahr 2016, forschen heute über 70 Wissenschafter:innen am CSH, getragen von der wachsenden Notwendigkeit für ein fundiertes Verständnis der Zusammenhänge, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen – vom Gesundheitswesen bis zu Lieferketten. Mit unseren interdisziplinären Methoden entwickeln wir die Kompetenzen, um Antworten auf heutige und zukünftige Herausforderungen zu finden.
Mitglieder des CSH sind AIT Austrian Institute of Technology, BOKU University, Central European University (CEU), Medizinische Universität Wien, TU Wien, TU Graz, Universität für Weiterbildung Krems, Vetmeduni Wien, Wirtschaftsuniversität Wien (WU) und Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ).
csh.ac.at
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