Die jüngste Krise bei Volkswagen verdeutlicht, wie Lieferkettenunterbrechungen finanzielle Risiken verschärfen können. Ein neues Modell, entwickelt vom Complexity Science Hub (CSH), zeigt, wie Risiken von der Realwirtschaft auf den Finanzsektor übergreifen.
[Wien, 06.12.2024] Wenn der größte Automobilhersteller Europas mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert ist, erstrecken sich die Auswirkungen weit über die Automobilindustrie hinaus – und können auch das Finanzsystem insgesamt ernsthaft belasten. Volkswagens jüngste Ankündigung von Stellenabbau, sowie ähnliche Warnungen der Autozulieferer Bosch in Deutschland und Brawe und Adient in Tschechien, verdeutlichen die wachsenden Risiken.
Mit der Zuspitzung der Krise bei VW könnte sich die bereits bestehende wirtschaftliche Instabilität weiter verschärfen. Als Reaktion auf die Werksschließungen von Volkswagen senkte Moody's den Ausblick für die Kreditwürdigkeit des Unternehmens. Auch die Deutsche Bundesbank warnt in ihrem jüngsten Finanzstabilitätsbericht, dass es 2025 zu einem Anstieg der Unternehmensinsolvenzen kommen könnte.
„Diese Situation unterstreicht, wie Lieferkettenunterbrechungen finanzielle Risiken verstärken können“, erklärt Zlata Tabachová, Wissenschafterin am CSH. Gemeinsam mit einem Team von Forschenden hat sie ein Modell entwickelt, das die kritische Rolle von Lieferkettenunterbrechungen bei der Verschärfung finanzieller Risiken quantifiziert – mit tiefgreifenden Implikationen für die Kreditrisikobewertung und die Finanzstabilität.
Das Modell zeigt, dass Unterbrechungen in Lieferketten finanzielle Verluste erheblich steigern können – weit über das hinaus, was traditionelle Kreditrisikobewertungen erwarten ließen. Laut den Forschenden könnten die finanziellen Verluste der Banken im Falle eines Schocks in der Lieferkette (und dessen Ausbreitung im Liefernetz) bis zu fünfmal höher sein als die erwarteten Verluste, die von herkömmlichen Kreditrisikomodellen vorhergesagt werden.
„Unsere Ergebnisse verdeutlichen, dass traditionelle Modelle zur Kreditrisikobewertungen, die hauptsächlich auf der finanziellen Performance von Unternehmenskund:innen basieren, das tatsächliche finanzielle Risiko von Banken durch Lieferkettenunterbrechungen unterschätzen könnten“, so Tabachová.
Für das neue Modell nutzten die Forschenden einen umfangreichen, landesweiten Datensatz mit über 240.000 ungarischen Unternehmen, 27 Banken, mehr als 1,1 Millionen Lieferkettenverbindungen und über 25.000 Bank-Firmen-Krediten.
„Dieses mehrschichtige Netzwerkmodell ist ein Fortschritt in der Beurteilung von tatsächlichen Kreditrisiken“, sagt Tabachová. „Traditionell bewerten Banken Risiken vor allem auf Basis von Informationen zu Kund:innen und deren direkten Lieferant:innen und Abnehmer:innen. Doch in Wirklichkeit sind diese Unternehmen über höhere Ordnungsebenen im Liefernetzwerk eng miteinander verbunden, und Störungen in einer Verbindung können sich auf das gesamte System auswirken.“
WENIGE UNTERNEHMEN, GROßE RISIKEN
Zudem berichten Tabachová und ihre Kolleg:innen im Journal of Financial Stability, dass das Risiko einzelner Unternehmen weitaus größer sein kann als bisher angenommen. Eine kleine Anzahl von Unternehmen – solche mit der höchsten Vernetzung in der Lieferkette oder essenziellen Produktionsinputs – könnte Zahlungsausfälle auslösen, die bis zu 22 % der gesamten Eigenkapitalverluste im Bankensystem verursachen. Diese Verluste resultieren überwiegend indirekt aus Lieferkettenunterbrechungen und nicht aus den ursprünglichen Ausfällen selbst.
Die Studie legt nahe, dass Finanzaufsichtsbehörden ihre Überwachung systemischer Risiken überdenken sollten. Während Unternehmen mit großen Kreditportfolios traditionell als besonders relevant für die Finanzstabilität gelten, argumentieren die Forschenden, dass auch jene Unternehmen, die aufgrund ihrer zentralen Rolle im Liefernetzwerk weitreichende Zahlungsausfälle auslösen könnten, mehr Beachtung verdienen. „Solche Unternehmen werden übersehen, wenn die Auswirkungen von Lieferketten nicht berücksichtigt werden. Regulierungsbehörden könnten von einem Ausbau ihrer Kapazitäten im Bereich der Überwachung von durch Lieferketten verursachte und verstärkte systemische Risiken profitieren“, so die Forschenden.
SIMULATION EINER WIRTSCHAFTSKRISE IN DER REALEN WELT
Um die Relevanz ihres Modells eingehender zu prüfen, simulierten Tabachová und ihre Kolleg:innen eine reale Wirtschaftskrise nach dem Vorbild der Covid-19-Pandemie. Ihre Simulationen ergaben, dass die Eigenkapitalverluste der Banken ohne Intervention bis zu 6 % betragen könnten. Eine bescheidene Liquiditätsspritze – die nur 0,5 % des gesamten Eigenkapitals der Banken entspricht – könnte jedoch die Verluste um mehr als 80 % reduzieren, indem sie gezielt angeschlagene Unternehmen unterstützt, die zwar illiquide, aber noch solvent sind, so die Studie.
„Unsere Ergebnisse aus dem Covid-19 inspirierten Szenario bestätigen die gängige Praxis, Unternehmen während Krisen Liquiditätshilfen zu gewähren. Doch durch ein tiefgehendes Verständnis der durch Lieferketten verursachten Verluste im gesamten Netzwerk könnten Unterstützungsmaßnahmen möglichst effektiv verteilt werden, um die negativen Auswirkungen der Krise einzudämmen und die Inflation unter Kontrolle zu halten“, so die Forschenden.
„Volkswagen ist unbestreitbar ein systemrelevantes Unternehmen mit erheblichem Einfluss, der weit über die Grenzen Deutschlands hinausreicht. Ein umfassendes Verständnis seiner vor- und nachgelagerten Lieferketten ist für politische Entscheidungsträger:innen und Regulierungsbehörden von entscheidender Bedeutung, um eine reibungslose und kosteneffiziente Transition zu ermöglichen, der mit den klimapolitischen Zielen in Einklang steht, ohne die finanzielle Stabilität zu gefährden“, fügt Tabachová hinzu.
Service
Die Studie “Estimating the impact of supply chain network contagion on financial stability” von Z. Tabachová, C. Diem, A. Borsos, C. Burger, and S. Thurner wurde im Journal of Financial Stability publiziert (doi: 10.1016/j.jfs.2024.101336).
Über den Complexity Science Hub
Der Complexity Science Hub (CSH) ist Europas wissenschaftliches Zentrum zur Erforschung komplexer Systeme. Wir übersetzen Daten aus einer Reihe von Disziplinen – Wirtschaft, Medizin, Ökologie, Sozialwissenschaften – in anwendbare Lösungen für eine bessere Welt. Gegründet im Jahr 2016, forschen heute über 70 Wissenschafter:innen am CSH, getragen von der wachsenden Notwendigkeit für ein fundiertes Verständnis der Zusammenhänge, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen – vom Gesundheitswesen bis zu Lieferketten. Mit unseren interdisziplinären Methoden entwickeln wir die Kompetenzen, um Antworten auf heutige und zukünftige Herausforderungen zu finden.
Mitglieder des CSH sind AIT Austrian Institute of Technology, BOKU University, Central European University (CEU), Medizinische Universität Wien, TU Wien, TU Graz, Universität für Weiterbildung Krems, Vetmeduni Wien, Wirtschaftsuniversität Wien (WU) und Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ).
csh.ac.at
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