Zugverspätungen sind nicht nur für Fahrgäste unangenehm, sondern können auch erhebliche wirtschaftliche Verluste verursachen, insbesondere wenn sie sich wie ein Dominoeffekt durch das Netz ausbreiten. Um die Ausbreitung von Verspätungen im österreichischen Eisenbahnnetz zu quantifizieren und kritische Züge zu identifizieren, haben Forschende des Complexity Science Hub (CSH) in Zusammenarbeit mit den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) eine neue Methode entwickelt.
[Wien, 09.12.2024] Ist ein Zug verspätet, wirkt sich das häufig auch auf andere Züge aus, was zu hohen Kosten führen kann. Für Eisenbahnkonzerne ist daher die große Frage: Wie lässt sich diese Ausbreitung von Verspätungen in Zugnetzen effizient verhindern?
Mithilfe eines neuen netzwerkbasierten Ansatzes hat ein Team von CSH-Forschenden in Zusammenarbeit mit der ÖBB einen Weg gefunden, um das systemische Risiko einzelner Züge auf das gesamte Zugnetz zu quantifizieren. „So können wir Schwachstellen im System identifizieren, also jene Züge, die Verspätungen besonders stark auf nachfolgende Züge und das gesamte Zugnetzwerk übertragen. Dieses Wissen kann helfen die Pünktlichkeit insgesamt effektiv zu verbessern“, erklärt Vito Servedio vom CSH.
Mithilfe eines neuen netzwerkbasierten Ansatzes hat ein Team von CSH-Forschenden in Zusammenarbeit mit der ÖBB einen Weg gefunden, um das systemische Risiko einzelner Züge auf das gesamte Zugnetz zu quantifizieren. „So können wir Schwachstellen im System identifizieren, also jene Züge, die Verspätungen besonders stark auf nachfolgende Züge und das gesamte Zugnetzwerk übertragen. Dieses Wissen kann helfen die Pünktlichkeit insgesamt effektiv zu verbessern“, erklärt Vito Servedio vom CSH.
ZÜGE MIT GRÖßTEM EINFLUSS
Die Forschenden entwickelten ein Netzwerkmodell basierend auf Daten der stark frequentierten Strecke von Wien Hauptbahnhof nach Wiener Neustadt (mit bis zu 1.000 Personenzügen pro Tag) von 2018 bis 2020 sowie zusätzlichen Daten von allen Zugverbindungen in Österreich über einen Zeitraum von 14 Tagen. Mithilfe dieses Modells stuften sie Züge nach ihrem Potenzial zur Verbreitung von Verspätungen ein und identifizierten jene mit dem größten Einfluss auf das gesamte Netzwerk. Um ihre Ergebnisse zu validieren und Strategien zur Verringerung von Verspätungen zu testen, entwickelte das Team eine agentenbasierte Simulation des österreichischen Zugnetzes, welche die tägliche Zugdynamik und alle Interaktionen nachbildet.
Die Ergebnisse zeigen, dass jene Züge, die kurz vor und während der ersten Stoßzeit verkehren, am kritischsten sind – „was vielleicht wenig überraschend ist. Allerdings können wir in dem komplexen Netzwerk von Verbindungen während der Stoßzeiten unterscheiden, welche Züge die größte Auswirkung haben“, erklärt Simone Daniotti, Doktorand am CSH und Ersttautor der Studie, die im Journal npj Sustainable Mobility and Transport veröffentlicht wurde.
Das Team stellte außerdem fest, dass das Risiko dieser Züge an ihren geplanten Abhängigkeiten liegt. Erst wenn es zu einer Störung kommt, wird deutlich, wie entscheidend diese Verbindungen tatsächlich sind.
„ROLLENDES MATERIAL“ ALS HAUPTURSACHE FÜR VERSPÄTUNGSKASKADEN
Das Team fand heraus, dass Verspätungskaskaden sich im Modell primär durch die gemeinsame Nutzung von sogenanntem „Rollenden Material“, also Lokomotiven und Waggons, erklären lassen, obwohl diese im Vergleich zur Infrastruktur vergleichsweise wenige Kontaktpunkte haben. „Was wir feststellen, ist, dass die Verfügbarkeit von Lokomotiven und das Personal, eine wichtigere Rolle bei der Verbreitung von Verspätungen spielen als die Bewegungen der Züge selbst“, erklärt Daniotti. Wenn zum Beispiel ein Zug, der um 14 Uhr abfahren soll, auf eine Lokomotive angewiesen ist, die von einem Zug benutzt wird, der um 8 Uhr abgefahren ist, kann jede Verspätung des früheren Zuges den späteren Zug erheblich beeinträchtigen. Fehlt die Lokomotive, muss der andere Zug warten.
Obwohl das aktuelle Modell aufgrund fehlender Daten Personalverschiebungen nicht berücksichtigt, ist es so konzipiert, dass jederzeit zusätzliche Faktoren (wie das Personal) integriert werden können. Diese Flexibilität ermöglicht es, die Auswirkungen von Verspätungen zu verfeinern, sobald relevante Daten verfügbar sind.
ZUSÄTZLICHE ZUGVERBINDUNGEN
Um potenzielle Lösungen zu untersuchen, simulierten die Forschenden eine einstündige Verspätung für die einflussreichsten 2 % der Züge auf der stark befahrenen Südbahnstrecke vom Wiener Hauptbahnhof nach Wiener Neustadt. „Wir fanden heraus, dass drei zusätzliche Zugverbindungen die Verspätungen im Modell insgesamt um etwa 20% reduzieren könnten“, erklärt Servedio.
Bei Anwendung dieses Ansatzes auf das gesamte österreichische Eisenbahnnetz, also durch Hinzufügen des gleichen Prozentsatzes von zusätzlichen Zügen, könnten die Verspätungen im Modell um 40 % reduziert werden, wenn 37 neue Züge oder Verbindungen hinzukämen, so die Forscher. Sie stellten auch fest, dass die Optimierung einer Bahnstrecke umso schwieriger ist, je mehr Verkehr auf ihr herrscht.
Bei Anwendung dieses Ansatzes auf das gesamte österreichische Eisenbahnnetz, also durch Hinzufügen des gleichen Prozentsatzes von zusätzlichen Zügen, könnten die Verspätungen im Modell um 40 % reduziert werden, wenn 37 neue Züge oder Verbindungen hinzukämen, so die Forscher. Sie stellten auch fest, dass die Optimierung einer Bahnstrecke umso schwieriger ist, je mehr Verkehr auf ihr herrscht.
Da es für die Eisenbahnunternehmen am wirtschaftlichsten ist, Nahverkehrszüge mit elektrischen Triebwagen einzusetzen, während Fernzüge schwieriger und teurer zu ersetzen sind, untersuchten die Forschenden, ob die Auswirkungen davon abhängen, welche Zugverbindungen hinzugefügt werden. „Interessanterweise haben wir festgestellt, dass wir eine ähnliche Verringerung der Gesamtverspätungen um etwa 20 % erreichen können, wenn wir drei der kosteneffizientesten Zugverbindungen auf der Südbahnstrecke hinzufügen“, sagt Servedio.
VORREITER IN EUROPA
„Die ÖBB ist bestrebt ihre Kund:innen möglichst pünktlich am Ziel zu bringen. Das von CSH entwickelte Modell ist für uns ein weiteres Werkzeug, um dieses Ziel in unserem komplexen Bahnsystem erreichen zu können“, erklärt ÖBB-Programmleiter Aad Robben-Baldauf.
„Die Simulation eines nationalen Eisenbahnsystems ist komplex und umfasst eine riesige Anzahl von Zügen, Betriebsstellen und Knotenpunkten, die Milliarden von Szenarien erzeugen. Herkömmliche Methoden reichen in dieser Größenordnung oft nicht aus. Netzwerkanalysen und Komplexitätsforschung bieten jedoch robuste Modellierungswerkzeuge, um sehr schnell systemische Schwachstellen zu identifizieren“, erklärt CSH-Präsident Stefan Thurner. Diese Studie ist ein Beispiel für die wesentlichen Vorteile, die sich aus der Kombination von wissenschaftlicher Forschung und industriellem Fachwissen ergeben.
Service
ÜBER DIE STUDIE
Die Studie "Systemic risk approach to mitigate delay cascading in railway networks" von S. Daniotti, V. D. P. Servedio, J. Kager, A. Robben-Baldauf und S. Thurner wurde kürzlich in npj Sustainable Mobility and Transport veröffentlicht (doi: 10.1038/s44333-024-00012-6).
Diese Studie wurde im Rahmen des Projekts „Train Operating Forecasting“, einer gemeinsamen Initiative des Complexity Science Hub und der ÖBB, durchgeführt. Ziel ist es, Optimierungsstrategien für den ÖBB-Personenverkehr zu entwickeln, um die jährlichen Gesamtverspätungen im System zu reduzieren.
ÜBER DEN COMPLEXITY SCIENCE HUB
Der Complexity Science Hub (CSH) ist Europas wissenschaftliches Zentrum zur Erforschung komplexer Systeme. Wir übersetzen Daten aus einer Reihe von Disziplinen – Wirtschaft, Medizin, Ökologie, Sozialwissenschaften – in anwendbare Lösungen für eine bessere Welt. Gegründet im Jahr 2016, forschen heute über 70 Wissenschafter:innen am CSH, getragen von der wachsenden Notwendigkeit für ein fundiertes Verständnis der Zusammenhänge, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen – vom Gesundheitswesen bis zu Lieferketten. Mit unseren interdisziplinären Methoden entwickeln wir die Kompetenzen, um Antworten auf heutige und zukünftige Herausforderungen zu finden.
Mitglieder des CSH sind AIT Austrian Institute of Technology, BOKU University, Central European University (CEU), Medizinische Universität Wien, TU Wien, TU Graz, Universität für Weiterbildung Krems, Vetmeduni Wien, Wirtschaftsuniversität Wien (WU) und Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ).
csh.ac.at
Mitglieder des CSH sind AIT Austrian Institute of Technology, BOKU University, Central European University (CEU), Medizinische Universität Wien, TU Wien, TU Graz, Universität für Weiterbildung Krems, Vetmeduni Wien, Wirtschaftsuniversität Wien (WU) und Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ).
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