Dass Österreich den jüngsten Gaslieferstopp von Gazprom an die OMV gut zu verkraften scheint, verdeutlicht die bedeutenden Fortschritte, die seit 2022 gemacht wurden, als Europa aufgrund der starken Abhängigkeit von russischem Gas noch mit erheblichen wirtschaftlichen Risiken konfrontiert war. Eine vom Complexity Science Hub geleitete Studie zeigt, wie koordinierte Reaktionen, darunter Gasspeicher und alternative Lieferrouten, potenzielle Schäden abmildern können, und bietet wichtige Ansatzpunkte für künftige Krisen.
[Wien, 11.12.2024] Vor kurzem stellte Gazprom die Lieferung an die OMV ein, worauf einige Headlines folgten, aber die große Panik blieb aus. Ganz anders war es knapp drei Jahre zuvor: Als im Februar 2022 russische Truppen in die Ukraine einmarschierten, geriet Europa aus verschiedenen Gründen aus dem Gleichgewicht. „Einer davon war die Abhängigkeit von russischem Gas. Viele Länder, ganz besonders solche wie Österreich, das 2021 rund 80 % seines Gases aus Russland bezog, mussten schnell Maßnahmen ergreifen, um diese Abhängigkeit zu reduzieren und die Versorgungssicherheit zu gewährleisten“, erklärt Anton Pichler vom Complexity Science Hub (CSH) und der Wirtschaftsuniversität Wien. „Man musste reagieren – und das in einem hochdynamischen Umfeld“, so der Forscher.
Dieses Umfeld bildete den Ausgangspunkt für eine Studie, die nun im Journal of Economic Behavior & Organization veröffentlicht wurde und bereits im Mai 2022 als Policy Brief erschien. Darin quantifizierten die Forschenden, basierend auf dem hypothetischen Szenario eines vollständigen Stopps der russischen Gasimporte nach Europa ab dem 1. Juni 2022, welche Maßnahmen welche Effekte gehabt hätten. „Damit man künftig die Debatte nicht erst mit der Katastrophe starten muss, sondern die Lösungsmöglichkeiten bereits in der Schublade liegen“, erklärt CSH-Präsident Stefan Thurner.
FÜNFMAL KLEINERE SCHÄDEN DURCH KOOPERATION
In ihrer Studie analysierten die Forschenden verschiedene Maßnahmen zur Minderung der potenziellen wirtschaftlichen Auswirkungen – wie alternative Gasimporte, Gasspeicher, einen Wechsel zu anderen Brennstoffen sowie Einsparungen beim Heizen und im Pipelinebetrieb – und modellierten dann die jeweiligen ökonomischen Auswirkungen sowohl für einzelne Sektoren als auch für die gesamte Wirtschaft.
„So konnten wir bereits im Frühling 2022 darauf hinweisen, dass durch eine koordinierte Verteilung knapper Gasvorräte unter den EU-Mitgliedstaaten die Produktionsrückgänge fünfmal kleiner sein könnten, als wenn Österreich versucht, individuell zusätzliches Gas zu sichern“, erklärt Thurner.
„Tatsächlich wurden in den darauffolgenden Monaten auf EU-Ebene erste Schritte unternommen, wie zum Beispiel die Füllung der Gasspeicher, die in der Folge politisch stark vorangetrieben wurde“, ergänzt Pichler.
Volle Gasspeicher zählen zwar zu den wichtigsten kurzfristigen Hebeln, um für einen Gaslieferstopp gewappnet zu sein, was auch die Studie zeige, aber man dürfe auf die Bedeutung einer koordinierten Krisenreaktion auf EU-Ebene nicht vergessen, betonen die beiden Forscher – insbesondere, weil sich knapp die Hälfte der österreichischen Gasreserven im Besitz ausländischer Eigentümer:innen befinde. „Heute sind die Speicher in Österreich gut gefüllt, wobei fast 50 TWh des gespeicherten Gases, also etwa zwei Drittel des Jahresverbrauchs von 2023, in österreichischem Besitz sind. Diese Gasspeicher sind neben alternativen Lieferwegen einer der Gründe, weshalb wir den aktuellen Gaslieferstopp von Gazprom an die OMV wesentlich besser kompensieren können“, so Pichler. Im Gegensatz dazu hätte 2022 selbst ein teilweiser Lieferstopp von russischem Erdgas in Österreich zu einem Bruttowerstschöpfungsverlusts von mehreren hunderten Millionen Euro pro Monat geführt, so die Studie.
ÖSTERREICH: IMMER NOCH RUSSISCHES GAS
Während im August 2024 zwar immer noch 82% der österreichischen Gasimporte aus Russland stammten, haben andere europäische Länder längst ihre Gasimporte aus Russland reduziert. EU-weit stammten 2023 nur noch 8% aller Gasimporte aus Russland.
Dass andere europäische Länder nun deutlich weniger von Russlands Gaslieferungen abhängig sind, trägt maßgeblich dazu bei, dass die zu erwartenden wirtschaftlichen Konsequenzen viel kleiner sein würden, als sie es noch im Juni 2022 gewesen wären, so die beiden Forschenden. „In unserem Policy Brief haben wir gezeigt, dass alternative Handelspartner:innen eine Schlüsselrolle spielen können, um Schäden zu reduzieren. Da jetzt unsere Nachbarländer kaum noch von russischem Gas abhängig sind, ist es wesentlich leichter nicht-russisches Gas zu importieren, als es bei einem Lieferstopp vor zwei Jahren der Fall gewesen wäre“, so Pichler.
MILDE BIS SCHWERWIEGENDE AUSWIRKUNGEN
Basierend auf dem hypothetischen Szenario eines vollständigen Stopps der russischen Gasimporte nach Europa ab dem 1. Juni 2022 zeigt die Studie, dass die potenziellen wirtschaftlichen Folgen von relativ milden bis hin zu sehr schwerwiegenden Auswirkungen reichen können, je nach Umsetzung und Erfolg von Gegenmaßnahmen.
Die wichtigsten kurzfristigen politischen Hebel sind die Sicherung alternativer Gasimporte, das Speichermanagement und Anreize für die Umstellung auf andere Brennstoffe, so die Studie. „Im Nachhinein erscheinen die Resultate fast als offensichtlich. Allerdings gab es im Frühjahr 2022 große Unsicherheit zu den möglichen wirtschaftlichen Folgen und unsere Studie hat die Wirksamkeit und Realisierbarkeit jeder einzelnen Maßnahme quantifiziert“, erklärt Pichler.
VORBEREITET SEIN – NICHT NUR BEI GAS
Was haben wir also aus dem Schock gelernt? „Wir haben damals auf eine Krise reagiert, auf die wir wenig vorbereitet und dementsprechend nicht gewappnet waren. Krisen, wie diese, könnten aber auch in anderen wichtigen Bereichen passieren. Um gewappnet zu sein wäre es enorm wichtig ähnliche Analysen für andere kritische Sektoren und Technologiebereiche durchzuführen, um systematisch präventive Gegenmaßnahmen setzen zu können“, betonen die Forscher.
Service
ÜBER DIE STUDIE
Die Studie "Economic impacts of a drastic gas supply shock and short-term mitigation strategies" von A. Pichler, J. Hurt, T. Reisch, J. Stangl und S. Thurner wurde im Journal of Economic Behavior & Organization veröffentlicht (doi: 10.1016/j.jebo.2024.106750).
ÜBER DEN COMPLEXITY SCIENCE HUB
Der Complexity Science Hub (CSH) ist Europas wissenschaftliches Zentrum zur Erforschung komplexer Systeme. Wir übersetzen Daten aus einer Reihe von Disziplinen – Wirtschaft, Medizin, Ökologie, Sozialwissenschaften – in anwendbare Lösungen für eine bessere Welt. Gegründet im Jahr 2016, forschen heute über 70 Wissenschafter:innen am CSH, getragen von der wachsenden Notwendigkeit für ein fundiertes Verständnis der Zusammenhänge, die unserer Gesellschaft zugrunde liegen – vom Gesundheitswesen bis zu Lieferketten. Mit unseren interdisziplinären Methoden entwickeln wir die Kompetenzen, um Antworten auf heutige und zukünftige Herausforderungen zu finden.
Mitglieder des CSH sind AIT Austrian Institute of Technology, BOKU University, Central European University (CEU), Medizinische Universität Wien, TU Wien, TU Graz, Universität für Weiterbildung Krems, Vetmeduni Wien, Wirtschaftsuniversität Wien (WU) und Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ).
csh.ac.at
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